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Clik here to view.In der Psychoanalyse fällt häufig der Begriff „Abstinenz“. Während früher eher damit gemeint war, dass der Analytiker sich auf keine private Beziehung mit dem Patienten einlässt, ihn nicht berührt, ihn nicht sexuell oder finanziell ausnutzt und ihm von sich nichts weiter zeigt als einen emotionslosen Spiegel, so ist der Abstinenzbegriff heute doch oft so weit gefasst, dass Psychoanalytiker teilweise sehr Unterschiedliches darunter verstehen. Einen wunderbaren Überblick über „Die Geschichte der Abstinenzregel“ (2003) liefert die Psychoanalytikerin Iris Graurock vom Dresdener Institut für Erwachsenenbildung und Gesundheitswissenschaft e.V. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Gefühle dürfen sich ausbreiten
„Die Patientin hatte Schuldgefühle, aber ich sagte ihr: ‚Es ist schon ok.'“, erzählt die Psychotherapeutin. Der Supervisor sagt: „Damit haben Sie ihr die Chance genommen, das Gefühl wirklich wahrzunehmen. Sie haben direkt dafür gesorgt, dass sich das Schuldgefühl bei ihr beruhigt und dass das unangenehme Gefühl bei Ihnen abgeführt wurde.“ Aus heutigem Abstinenzverständnis könnte das bereits ein Bruch der Abstinenz sein. Man könnte es aber auch anders formulieren: Dem Patienten ist oft mehr damit geholfen, wenn Unangenehmes und Schmerzhaftes erst einmal bestehen bleibt, denn nur so können es beide fühlen und nur so kann es betrachtet und analysiert werden.
„Das analytische Abstinenzgebot regelt den Umgang des Analysanden und des Analytikers mit ihren Gefühlen, Phantasien und Impulsen, die nicht in unmittelbare Abfuhrhandlung umgesetzt werden dürfen, um sie analysieren zu können.“
Auf die Dosierung kommt es an
Wie sehr man den Patienten in seinen unangenehmen Gefühlen lässt, ist von vielen Faktoren abhängig – davon, wie schmerzempfindlich und „reif“ der Patient ist, wie lang die Behandlung bereits dauert und wieviel der Analytiker ertragen kann. Man kann es sich ähnlich vorstellen wie mit einem optimalen Lernklima: Ist die Anforderung zu hoch und besteht Druck und Angst, kann der Schüler kaum lernen. Ist die Anforderung zu niedrig, fühlt sich der Schüler nicht herausgefordert. Er erfährt nichts und lernt nichts. Ebenso ist es in der Beziehung zwischen Mutter und Kind. Der kleine Säugling darf noch alles, während dem älteren Kind Grenzen und Entbehrungen zugemutet werden können.
Sie zitiert den Psychoanalytiker Johannes Cremerius (1918-2002):
„Zu viel Abstinenz, und der Analytiker reduziert sich auf den distanzierten Beobachter; zu wenig Abstinenz, und der Analytiker inflationiert zum Co-Akteur des neurotischen Prozesses.“
Zurückhaltung und Nachdenken sind gefragt
Mit Abstinenz ist also hier eine Art „Zurückhaltung“ gemeint. Der Analytiker soll sich sozusagen davon abhalten, seinen Wünschen nach „Entladung“ nachzukommen. Er darf sich nicht zum „Freund“ des Patienten machen, so wie eine Mutter eben „nur“ Mutter der Tochter ist und nicht „beste Freundin“.
Nicht zu nah dran, nicht zu weit weg
Iris Graurock erinnert an die Sage von Dädalus und Ikarus. Der griechische Handwerker Dädalus baute sich und seinem Sohn Flügel aus Federn, die mit Wachs zusammengehalten wurden. So durften sie nicht zu hoch fliegen, da sonst die Sonne das Wachs zum Schmelzen gebracht hätte. Wären sie jedoch zu tief geflogen, hätte das Meereswasser die Flügel beschwert.
Verführung und Entbehrung
Der Analytiker wird vom Patienten immer wieder „verführt“, alte Lebensspiele mitzuspielen. Da, wo die Worte noch fehlen, wird gehandelt. Der Analyitiker muss einerseits aufpassen, dass er dort nicht mit einsteigt. Andererseits muss er sich auch teilweise verwickeln lassen, damit er erleben kann, was da passiert. Der Analytiker denkt darüber nach und kann oft im Nachhinein die Situation analysieren, deuten und verstehen.
Wehrlos
Der Patient wiederum gibt sich hin und versucht, nicht ständig alles abzuwehren. Er vertraut sich dem Analytiker an. Dadurch wird er sehr verletzlich und ist darauf angewiesen, dass der Analytiker verantwortungsvoll damit umgeht. Der Analytiker muss auf „Lob“ und Bestätigung ebenso verzichten können wie auf die Befriedigung seiner körperlichen und aggressiven Bedürfnisse. Er hält sich zurück, er ist abstinent.
Abstinenz bedeutet die Trennung vom Patienten und die Eigenständigkeit des Analytikers. Der Analytiker soll sich nicht verwenden lassen und den anderen nicht dazu verwenden, um das eigene Gleichgewicht herzustellen. Der Analytiker verzichtet auf das Manipulieren und hat die Fähigkeit, allen Manipulationen zu widerstehen.
Eine hohe Anforderung
Das klingt nach einer nahezu übermenschlichen Forderung. Jeder Analytiker hat hierzu wohl seine eigenen Ansichten und Techniken. Im Grunde ist der „neue“ Abstinenzbegriff eine Frage der Selbstdisziplin. Hier kann das Erlernen von Meditationstechniken sinnvoll sein. Das richtige, sinnvolle „Nicht-Reagieren“ will gelernt sein. Liest man Texte von Analytikern, die mit Psychotikern arbeiten (z.B. von Neville Symington oder Harold Searles), dann wird man auch andere Einstellungen zu diesem Thema finden.
Sich selbst wahrzunehmen ist wichtig
Psychoanalytiker zu sein heißt auch, sich gut um sich selbst zu kümmern, um für den Patienten da sein zu können. Iris Graurock schreibt: „Wichtig ist wohl ein zufriedenes eigenes Leben. Da liegt meine Verantwortung, und für mich heißt das, mich zu spüren, meine Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse ernst zu nehmen …“ Und auch hier wieder ist die Anforderung hoch, denn auch Analytiker haben nicht immer ein zufriedenes Leben. Schicksalsschläge sowie Zeiten der Einsamkeit und Krankheit begleiten auch sie. Auch Patienten können den Analytiker „trösten“, ihm neue Erkenntnisse vermitteln, Lösungen bieten, Einsamkeit vertreiben, Verbundenheitsgefühle herstellen, ohne es zu merken.
Muss es anstrengend sein? Ja und Nein.
Die Theorien um die Abstinenzregel klingen irgendwie anstrengend. Und natürlich ist es auch anstrengend für den Analytiker – so, wie es für eine Mutter anstrengend ist, Mutter zu sein. Aber es ist eben nicht alles. Ohne den Begriff „Abstinenz“ zu verwenden, könnte man vielleicht sagen: Ich als Analytiker respektiere den Patienten mit allem, was dazu gehört. Ich komme ihm nicht zu nahe, dringe nicht in ihn ein. Und ich respektiere auch meine Grenzen. Ich weiß es nicht besser als der Patient, sondern ich bin neugierig und begebe mich mit ihm in seine Welt. Wie versteht er seine Welt? Wie ist er dort hingekommen? Welche Ideen habe ich? Wie sieht die emotionale Wahrheit des Patienten aus und wie sieht meine innere Wahrheit aus? Wo entsteht die Resonanz? Wo bekomme ich als Analytiker Angst, weil Eigenes unerledigt ist? Beschäftigt man sich mit solchen Fragen, wird es wieder interessant und „unanstrengend“.
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