Am Anfang war die ungeformte Psyche. Ein Baby kommt auf die Welt. Es folgt seinen Instinkten, sucht nach der Brust und nimmt mit Lauten, Bewegungen, Ohren, Nase und Augen direkt Kontakt mit der Mutter auf. Die ersten Minuten nach der Geburt sind für die Bindung von unschätzbarem Wert. Viele Mütter, die ihr Kind direkt nach der Geburt entzogen bekommen haben, leiden daran. Neun Monate hat das Baby im Bauch der Mutter verbracht. Es hat ihre Gerüche und Geräusche, ihr Körpergefühl und ihre Stimme aufgenommen. Auch die Stimmen aus der Umgebung, zum Beispiel die Stimmen des Vaters und der Geschwister, kennt es. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Die Mutter war’s
Wenn psychisch schwer leidende Menschen eine Psychoanalyse beginnen, erzählen sie meistens schon in der ersten Stunde davon, wie sehr sie bei Vater und Mutter litten. Eine besondere Rolle spielt dabei immer die Beziehung zur Mutter. Bereits im Mutterleib beginnt die Mutter-Kind-Beziehung und sie wird intensiv nach der Geburt fortgeführt. Die Väter klagen oft, dass sie sich ausgeschlossen fühlen. Mutter und Kind bilden eine Symbiose. Die Mutter wirkt fast schizoid – sie verschließt sich in vielerlei Hinsicht der Umgebung und ist auf eine gewisse Art nur noch für das Baby da. Sie nimmt jeden Laut, jedes Atemgeräusch, jede Bewegung aufmerksam auf.
Erfahrungen mit Hautgrenzen sind Erfahrungen mit „Du und Ich“.
Der Hautkontakt zwischen Mutter und Kind ist eng. Das Baby spürt die Haut der Mutter und die eigenen Körpergrenzen – diese Grenzen gehen aber besonders zu Beginn des Lebens noch stark ineinander über. Das Baby macht erste psychische Erfahrungen, wenn die Mutter von ihm weg geht. „Die Mutter ist da, die Mutter ist weg“ – das ist mit das Erste, was ein Baby über Beziehung lernt. Ist das Baby satt und zufrieden, schläft es friedlich ein. Der Zustand „Die Mutter ist weg“ bereitet keine Probleme. Doch wenn der Hunger kommt und die Mutter ist nicht da, macht das Baby die Erfahrung von „Abwesenheit“. Der Hunger brennt und die Abwesenheit kann wie die „Anwesenheit von etwas Bösem“ erlebt werden. Die Mutter kommt zurück und das Baby macht die Erfahrung von „Rückkehr“.
Körperliche Erfahrungen sind Vorläufer von Gefühlen und Gedanken
„Das Ich entwickelt sich am Du“, heißt es. Und so ist es auch mit Babys und Kleinkindern. Das Baby kann Gefühle noch nicht in Worte fassen. Es spürt da nur irgendetwas. Es sind die ersten Erfahrungen mit dem eigenen Körper, die später zu geformten Gefühlen führen. Da ist etwas, das im Bauch drückt. Da kommt etwas. Ist es bedrohlich? Es fühlt sich so einengend an. Das Baby möchte weglaufen – es wird unruhig und zappelt mit den Beinen, bevor es sich entleert. Dann wird es das, was da im Bauch so drückte, los. Was für eine Befreiung! Erleichterung und Entspannung machen sich breit.
Die Mutter begleitet die körperlichen Erfahrungen
Diese körperlichen Erfahrungen werden meistens von der Mutter emotional begleitet: „Oh, das drückt da im Bauch, gell? Gleich geht’s Dir wieder besser, siehst Du?“ So oder ähnlich mag sie mit dem Kind sprechen. Dadurch lernt das Kind schon früh, eine innere Stimme auszubilden, die der Stimme und der „Stimmung“ der Mutter entspricht. Später kann es sich selbst innerlich gut oder eben weniger gut begleiten.
Die Mutter als Gefühlscontainer
Kinder lernen Gefühle kennen, indem sie den Mechanismus der „Projektiven Identifizierung“ anwenden. Sie lösen in der Mutter dasselbe Gefühl aus, das sie selbst haben: Sie schreien in Not und die Mutter spürt eben genau diese Not und wird alles tun, um das Baby zu beruhigen. Diese sehr schwierige Arbeit kann sie nur befriedigend leisten, wenn es ihr selbst gerade gut geht. Hier kommt die Umgebung ins Spiel: Ist der Vater da? Gibt es Großeltern oder Geschwister oder enge Begleiter? Ist die Mutter selbst gut bemuttert, hat sie den Spielraum, sich dem Baby zur Verfügung zu stellen. Sie nimmt die Gefühle des Babys auf, schaut sie an, fühlt sie in sich und verarbeitet sie. Dann tröstet sie das Baby, findet Worte, Gesten und Gesichtsausdrücke sowie Berührungen, mit denen sie dem Baby hilft, mit seinem Gefühl fertig zu werden. Sie macht aus rohen „Beta-Elementen der Psyche“ reife „Alpha-Elemente“, sagt der Psychoanalytiker dazu.
Blicke und Minenspiel fördern die Mentalisierungsfähigkeit
Eine besonders große Rolle bei der psychischen Entwicklung spielen die Blicke der Mutter. Wie schaut sie das Kind an? Wenn das Kind Angst zeigt, dann spiegelt die Mutter dem Kind seine Angst mit speziellen Gesichtsausdrücken. Sie „markiert“ ihre Gesichtsausdrücke und zeigt dem Baby, wie es ihm geht. Die gut gehaltene Mutter kann zeigen: „Liebes Baby, schau her, so große Angst hast Du. Ich fühle mit Dir, aber ich selbst habe gerade keine Angst.“ Das Baby erkennt diese „Markierung“ im Gesicht der Mutter. Dadurch versteht es langsam, was dieser Gesichtsausdruck bedeutet und es versteht, dass der Gesichtsausdruck der Mutter mit ihm selbst zu tun hat. Es fühlt sich von der Mutter emotional begleitet. Diese Vorgänge sorgen dafür, dass das Kind im Laufe der Zeit über sich und seine Gefühle sowie über andere nachdenken kann.
Die Blicke spielen ein Leben lang eine wichtige Rolle
In unserem Leben spielen die Blicke der anderen eine große Rolle. Wie werden wir von anderen angeschaut? Fühlen wir uns durch Blicke verfolgt? Schauen die anderen uns liebevoll oder eher feindselig an? Fragen wie diese hängen wiederum eng mit den ersten Erfahrungen mit Blicken zusammen, die wir mit Mutter und Vater gemacht haben. Der Blickkontakt zwischen Mutter und Kind hat große Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung des Kindes. Lächelt das Kind, lächelt die Mutter normalerweise zurück. Tut sie das nicht, löst das beim Kind Scham, Irritation und Hilflosigkeit aus.
Der Vater kommt hinzu
Der Vater verbindet und trennt Mutter und Kind zugleich: Er sorgt besonders am Anfang dafür, dass die Symbiose zwischen Mutter und Kind möglich wird. Er hält die Mutter, aber auch das Kind. Gleichzeitig ist er der „rettende Dritte“, der das Kind vor einer zu engen Zweierbeziehung mit der Mutter schützt. Viele Väter sind von Anfang an auch körperlich eng mit dem Kind verbunden, andere sagen: „Anfangs konnte ich nicht viel mit dem Kind anfangen.“
Erfahrungen mit dem Vater
Das Kind genießt es, durch die Luft gewirbelt zu werden und die Stärke des Vaters zu spüren. Der Vater ist der, der das Kind aktiviert, herausfordert und schützt. Das Gefühl von Geborgenheit wird gestärkt. Der Vater spielt bei der Entwicklung des Gewissens psychologisch eine wichtige Rolle („Das macht man nicht!“). Auch zeigt er dem Kind die Welt, führt es hinaus und ermöglicht ihm neue Erfahrungen. Besonders wichtig ist er auch bei der Entwicklung der Geschlechtsidentität – der Junge orientiert sich als Mann an ihm, das Mädchen fühlt sich in der Beziehung zu ihm als „echtes Mädchen“.
Das Ideale gibt es nicht
„Den größten Gefallen, den ein Vater einem Kind machen kann, ist, die Mutter zu lieben.“ So wäre es ideal. Aber die Welt ist einfach un-ideal. Wir alle müssen täglich mit Dingen leben, die wir so nie gewollt haben. Schuldgefühle liegen besonders bei Eltern an der Tagesordnung. Häufig wird die Abwehr aktiviert: „Frühe Trennungen schaden dem Kind nicht“, heißt es. Oder: „Das ist ja hier pure Ideologie.“ Die Eltern haben Angst. Machen sie es gut genug? Können sie die Verantwortung tragen oder fühlen sie sich aufgrund der Lebensumstände und der eigenen Geschichte schwach und eingeschränkt? Kindesentwicklung heißt immer auch „Entwicklung der Psyche“. Und die Psyche entwickelt sich eben am besten mit viel Zeit, in Geborgenheit, in guten Beziehungen. Jede Familie gestaltet das anders.
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 13.9.2016