Wenn wir träumen, sind uns Gegensätze, Widersprüche und Logik vollkommen egal. Wir orientieren uns nicht mehr an der Vernunft. Rechts kann im Traum auch links sein, oben und unten sind Eins (lateinisch: „altus“ = „hoch, tief“), zeitliche Abfolgen spielen keine Rolle. Diese Art des Denkens nannte Sigmund Freud den „Primärvorgang“, auch „Primärprozess“ genannt. Bei psychischen Störungen, insbesondere bei Psychosen, kommt das primärprozesshafte Denken häufig im Wachzustand vor. Aber auch in der Kunst, der Musik, in Märchen, in Gedichten und in Religionen finden wir primärprozesshaftes Denken. Diese Art des Denkens macht uns oft Angst. Es ist aber auch eine Quelle der Freude. (Text: © Dunja Voos, Bild: © Dorothea Jacob, Pixelio)
Primärprozess und Sekundärprozess
Dem primärprozesshaften Denken steht das „logische“ Denken, das „sedundärprozesshafte Denken“ gegenüber. Im Sekundärprozess ist alles zeitlich geordnet, zusammenhängend (konsistent) und „vernünftig“. Freud ging davon aus, dass das primärprozesshafte Denken zuerst da ist und dass sich das sekundärprozesshafte Denken erst im Laufe der Zeit beim Kind entwickelt. Heute weiß man allerdings, dass Babys schon sehr früh logisch denken können und schon als Säuglinge z.B. physikalische Gesetze kennen und staunen, wenn etwas unlogisch abläuft. Einige Forscher nehmen an, dass primär- und sekundärprozesshaftes Denken zwei getrennte Systeme sind, andere wiederum glauben an Übergänge.
„Wir haben erfahren, dass die Vorgänge im Unbewussten oder im Es anderen Gesetzen gehorchen als die im vorbewussten Ich. Wir nennen diese Gesetze in ihrer Gesamtheit den Primärvorgang im Gegensatz zum Sekundärvorgang, der die Abläufe im Vorbewussten, im Ich, regelt.“ (Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse, Reclam, Stuttgart 2010; amazon)
Primärprozesshaftes Denken in der Psychoanalyse
In der Psychoanalyse ist viel Platz für primärprozesshaftes Denken. Das Unbewusste von Patient und Analytiker begegnen sich dabei. Es entstehen Gefühle von Lust, Angst, Freude, aber auch von Sinnhaftigkeit und einem tiefen Verstehen. Wenn sich das Unbewusste von Therapeut und Patient treffen, entsteht oft das Gefühl, dass etwas passt. Patient und Therapeut wenden sich einander umfassend zu. Die Voraussetzung für solche Begegnungen ist allerdings, dass dem Therapeuten das Unbewusste weniger Feind, sondern vielmehr Freund ist.
Primärprozess: Ich habe Lust auf ein Eis – und zwar sofort!
Der Primärprozess steht für das Lustprinzip. Wenn ich an ein Eis denke und das sofort haben möchte und keine Aufschiebung dulde, dann ist das primärprozesshaft. Das Unbewusste, das Es und die unbewussten Teile des Ichs (auch die Anteile, die auch für die Abwehr zuständig sind) – sie alle stehen für den Primärprozess.
Verschiebung und Verdichtung
Wenn wir primärprozesshaft denken, dann verschieben und verdichten wir. Wir fassen Widersprüchliches in einer Figur zusammen. So wurde zum Beispiel die Sphinx erschaffen, die oben Frau und unten Löwe ist. Auch verschiedene Vorstellungen können sich in einer Vorstellung vereinen, also zu einer Vorstellung verdichten. Das zeigt sich z.B. oft in der Religion: Jesus ist Gott und Mensch zugleich.
Fehlleistungen
Fehlleistungen sind ebenfalls das Ergebnis von primärprozesshaftem Denken. Wenn jemand in einer Rede sagt: „Das Gute in ihm kam zum Vorschwein“, dann rutscht sozusagen seine unbewusste Ablehnung mit hinaus. Der Redner will etwas Gutes sagen, doch leider gelingt es ihm nicht so ganz. Die Psyche hat daraus eine Befriedigung gewonnen, aber es ist auch peinlich und gleichzeitig lustig. Hier hat also einerseits eine Wunscherfüllung stattgefunden („Ich will etwas Negatives über den anderen sagen“) und gleichzeitig gibt es eine Abwehr („Ich will den anderen in den höchsten Tönen loben, um meine Aggressionen zu verbergen.).
Auch in vielen Dichtungen findet man primärprozesshaftes Denken, z.B. wenn Worte kunstvoll zusammengesetzt wurden und sich reimen.
Es gibt auch schriftliche Fehlleistungen, z.B. wenn wir uns vertippen: Da wird aus dem Vorratsraum ein Vortragsraum oder ein Vortagstraum, je nachdem, was wir unbewusst gerade dachten.
(Quelle unter anderem: Seminar „Primärprozess“ am 5.12.2013, Psychonalytische Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf)
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 8.12.2012
Aktualisiert am 9.7.2015