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Reizdarm – wie den Durchfall in den Griff bekommen? Ein paar Tipps.

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Der Druck kommt, kurz bevor man muss – jemanden treffen muss, einen Termin einhalten muss, funktionieren muss. Etwas erwarten, pünktlich sein, jemandem begegnen – das sind Momente, in denen man auf einmal merkt: „Ich muss mal.“ Aber es ist zu spät. „Wieso musste ich vorher nicht?“, fragt man sich ärgerlich. „Wie kann ich die Situation jetzt durchstehen?“, ist die nächste Frage. Am schlimmsten sind Orte, an denen es keine Toiletten gibt oder Termine, bei denen man nicht einfach weg kann. Wie kann man den Druck, das Feuer im Darm, die „Ladung“ in den Griff bekommen? (Text & Bild: © Dunja Voos)

Immer vorsichtiger

Menschen mit einem Reizdarmsyndrom können leicht neurotisch darüber werden: Immer vorsichtiger wählen sie ihre Nahrungsmittel aus, sie achten auf Essenszeiten und Toilettenzeiten. Sie probieren es mit Autogenem Training, Hypnose und Fantasie-Reisen. Und doch macht der Körper das, was er will. Die Verdauung lässt sich scheinbar gar nicht steuern.

Etwa zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen.
(Informationen der Hardtwaldklinik)

Anspannung

Eine Begegnung mit einem anderen Menschen ist fast immer ein aufregendes Moment: Der andere kommt näher, die Tür geht auf und es treffen sich die Blicke. Menschen mit Reizdarmsyndrom fühlen sich dann manchmal wie zugeschnürt. Sobald sie sich mit jemandem verabreden, fühlen sie sich verpflichtet und nicht mehr frei. Die Vorstellung, dass sich zwei Menschen verabreden können und dass sich dabei beide wohlfühlen, liegt ihnen oft fern. Sie kennen und empfinden es eher so, dass der eine den anderen gefühlsmäßig festzurrt, der eine etwas von dem anderen will und erwartet, der eine etwas mit dem anderen „macht“. Das Gefühl, in Anwesenheit eines anderen (vor allem einer Autoritätsperson) nicht mehr frei zu sein, äußert sich symbolisch in dem Gefühl, zur Toilette zu müssen und nicht zu dürfen.

Seele und Verdauung hängen eng zusammen

Die Psyche und die Verdauung sind untrennbar miteinander verbunden. Das parasympathische Nervensystem springt eigentlich bei Entspannung an und leitet den Stuhlgang ein. Wer entspannt am Frühstückstisch sitzt, merkt oft, dass er muss. Beim Reizdarmsyndrom ist man aber ganz und gar nicht entspannt, wenn man „muss“. Es sind äußerst angespannte Situationen, in denen sich der Stuhlgang meldet. Aber er ist dann ja auch nicht normal, sondern der Darm brennt wie Feuer und viele haben das Gefühl, im Bauch wird alles flüssig.

Es geht um Chaos und Kontrolle.

Sprache und Gefühle

„Ich will den bescheißen“, denken wir, wenn wir uns in die Ecke gedrängt fühlen und dem anderen etwas vorlügen. Vor der Prüfung hat man „Schiss“ und aufregende Erfahrungen muss man erstmal „verdauen“. An einem Problem „kauen wir herum“. Schon an unserer Sprache erkennt man, dass die Seele manchmal dasselbe macht wie der Darm: Sie verdaut etwas. Wenn wir etwas erleben, was unsere Emotionsverarbeitung übersteigt, kann es sein, dass wir uns vor Schreck übergeben. Wir können Gefühle innerlich „halten“, aber wenn es uns zu viel wird, dann laufen wir über. Wenn das Gefühlskörbchen voll ist, müssen wir loswerden, was uns „bedrückt“. Wenn wir unsere Gefühle nicht „ausdrücken“ können, reagiert unser Körper.

Reizdarmsyndrom – ein Beziehungsproblem

Egal, wie groß der Druck ist, während man jemandem gegenübersteht und denkt, man könne nicht weg: oft findet man sofort Erlösung, sobald man aus der Situation raus ist. Plötzlich geht es einem wieder gut. Der Reizdarm ist bei sehr vielen Menschen ein Beziehungsproblem. Nachts oder alleine bestehen die Symptome nicht.

Die Vorstellung, in der Beziehung frei zu sein, ist bei vielen Betroffenen kaum da.

Was hilft?

  • Viele Betroffene haben schon viel verstanden, haben sogar eine Psychotherapie wegen ihres Reizdarmsyndroms (englisch: Irritable Bowel Syndrome, IBS) gemacht. Und doch tritt das Problem immer wieder auf. Versuche, noch genauer auf die Ernährung zu achten, gehen manchmal „nach hinten los“. Einige Betroffene kommen jedoch gut zurecht, wenn sie einen guten Ernährungsberater gefunden haben.
  • Vielen hilft es, einfach das weiter zu essen, was ihnen gut tut und was ihr Darm von Kindes Beinen an kennt.
  • „Das Einzige, was wirklich hilft, ist Sport/Bewegung“, sagte ein Patient. Ja. Viele Reizdarm-Patienten sagen, dass es ihnen besser ging, nachdem sie über mehrere Monate hinweg regelmäßig Walken, Schwimmen oder Joggen gegangen sind. Auch Yoga hilft. Regelmäßige Bewegung tut dem Darm gut und hilft Körper und Seele, sich zu regulieren.
  • Sich selbst den Gang zur Toilette erlauben. Manchmal warten wir irgendwie darauf, dass uns ein Außenstehender die Freiheit erlaubt. Doch das Warten setzt uns gefangen. Wir können selbst wie ein Küken von innen die Schale aufpicken. Wir können selbst die Schranke hochheben.
  • „Mir hilft es, wenn ich morgens in Ruhe zur Toilette gehen kann“, sagt eine Patientin. Den Darm zu erziehen, das kann einige Monate dauern, aber sehr helfen. Am besten ist es, etwa zwei Stunden vor Beginn des Arbeitstages aufzustehen. Eine Tasse Espresso, Joghurt oder heißes Wasser regen den Darm an. Wer in Ruhe jeden Morgen zur Toilette gehen kann, muss dann tagsüber meistens nicht mehr über seine Verdauung nachdenken. Für dieses Vorgehen müssen Sie sich jedoch einige Monate Zeit geben.

Verborgene Wünsche

Leider ist mir keine zuverlässige „Soforthilfe“ bekannt; tritt die Situation ein, kann man sich oft nur noch durchboxen und zwischen „Flucht oder Kampf“ (englisch: Flight or Fight) entscheiden. Manchmal hilft es, sich seiner Gefühle und Wünsche bewusst zu werden. Hinter dem Drang, wegzulaufen, steckt möglicherweise der gegenteilige Wunsch: sich zu entspannen, sich hinzugeben, in Abhängigkeit zu begeben und versorgt zu werden.

Aufnehmen und Abgeben

Manchmal fühlt es sich so an, als sei das, was der andere „in einen reintut“ (Erwartungen, Meckereien, Erzählungen) einfach zu viel. Es kann sogar „zu viel des Guten“ sein. Dann hat man das Gefühl, man will es so schnell wie möglich wieder loswerden. In der Vorstellung wird man das, was in der Psyche oder im „Gefühlskörper/im Gefühlskörbchen“ liegt, am besten los, indem man den Körper/den Darm entleert. Manchmal will man es dem anderen auch unbewusst „zurückgeben“ und ihn regelrecht „anscheißen“.
Nicht zuletzt ist der Drang zur Toilette auch mit dem (unbewussten) Gedanken verbunden, keinen eigenen Raum zu haben. Es kann dann hilfreich sein, sich bildlich einen eigenen Raum vorzustellen, obwohl man einem anderen gegenübersitzt oder -steht.

Eine Qual
Das Reizdarmsyndrom hat etwas zu tun mit der Fantasie von „Eingeschlossensein“. „Ich bin irgendwo eingeschlossen und kann nicht rausrennen zur Toilette“, so der Gedanke. Man ist gefühlsmäßig gefangen in einer sozialen Situation, z.B. im Wartezimmer einer Arztpraxis. Der Darminhalt lässt sich jedoch nicht aufhalten. Er „rennt raus“, egal, was ist. So kann man der unertränglichen Situation in „Gefangenschaft“ entweichen. Aber es ist verbunden mit den Gefühlen von Scham, Schuld und Peinlichkeit. Es findet ein innerer Kampf statt. Das Reizdarmsyndrom ist etwas „Anales“, also etwas, das mit Tyrannei und Qual zu tun hat.

Das Gefühl, rausrennen zu können

Auf der Toilette kann man laufen lassen. In der Phantasie ist man es irgendwie auch selbst, der da laufen geht. Es ist ähnlich wie beim Ausdruck „sich übergeben“ – es ist, als würde man sich selbst irgendwo anders hin-versetzen. Nach dem Stuhlgang fühlt man sich wie befreit, als sei man selbst hinaus ins Freie gegangen. Im Grunde ist das Reizdarmsyndrom ein Kampf um Befreiung.

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Links:

Mary-Joan Gerson (Psychoanalytikerin, spezialisiert auf Reizdarm):
Embodied Experience:
The Psychoanalyst and Medical Illness

Official publication of Division 39 of the American
Psychological Association, XXVIII, 1:15-21, 2008
www.maryjoangerson.com/docs/embodiedexperience.pdf

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 8.6.2015
Aktualisiert am 21.3.2016


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