Wenn ich krank bin, habe ich Glück, wenn ich an einen weisen, wohlwollenden Arzt gerate. Durch die Krankheit bin ich geschwächt und hoffe nun, dass der Arzt mir hilft. In dieser Situation liegt es nahe, dass ich in dem helfenden Arzt einen „guten Vater“ sehe. Den Vorgang, dass ich mir dieses Bild von dem Arzt mache und dann mit dieser inneren Haltung auf den Arzt zugehe, nennt man „Übertragung“ (englisch: Transference). (Text und Bild: © Dunja Voos)
Übertragung wird bemerkt
Der Arzt selbst spürt, dass ich Hilfe suche und in ihm einen guten Vater sehe. Er entwickelt mir gegenüber väterliche Gefühle und will mir helfen. Den Vorgang, dass der Arzt in dieser Situation in Bezug auf mich spezielle Gefühle entwickelt, die ich in ihm ausgelöst habe, nennt man „Gegenübertragung“ (englisch: Countertransference). Wenn ich jedoch wieder gesund bin und denselben Arzt zum Beispiel beruflich wiedertreffe, habe ich vielleicht ein ganz anderes Bild von ihm. Vielleicht finde ich ihn plötzlich wenig väterlich, sondern vielmehr unangenehm besserwisserisch und arrogant.
Quelle: Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Kohlhammer, 3. Auflage, S. 234)
Eine andere Quelle sagt, der Begriff tauche bei Freud erstmals 1909 auf (siehe unten).
Erspüren, Sortieren und Analysieren
„Übertragung“ und „Gegenübertragung“ spielen in jeder Beziehung eine Rolle. Besonders wichtig sind sie jedoch in einer psychoanalytischen Therapie. Hatte der Patient beispielsweise keine gute Beziehung zu seinem Vater, so mag er dem Therapeuten schon zu Beginn der Therapie feindlich gegenübertreten, ohne dass er es selbst bemerkt. Der Patient ist vielleicht vorsichtig und erwartet nichts Gutes vom Therapeuten. In der „Gegenübertragung“ spürt der Therapeut die Feindseligkeit und denkt möglicherweise: „Das ist ja ein argwöhnischer Patient. Er macht mich ganz ärgerlich mit seinem Misstrauen.“
Genau hinschauen
Im Gegensatz zum „echten Leben draußen“ bietet die Psychoanalyse an dieser Stelle einen Raum, um diese Reaktionen unter die Lupe zu nehmen. Doch es ist nicht einfach mit der Übertragung und Gegenübertragung. Nicht immer lässt sich sagen, ob der Patient ein Gefühl im Analytiker ausgelöst hat oder ob der Analytiker dieses Gefühl sowieso schon hatte oder ob im Analytiker ganz eigene Probleme aktiviert werden, die nicht direkt etwas mit dem Patienten zu tun haben. Der amerikanische Psychoanalytiker Harold Searles war Meister darin, Übertragungs-Gegenübertraguns-Reaktionen zu analysieren und zu beschreiben.
Was da ist, wird ernstgenommen
Zur Ausbildung eines jeden Psychoanalytikers gehört die „Lehranalyse“. Hier geht der Psychoanalytiker selbst zu einem anderen Analytiker in Therapie. So lernt er sich selbst gut kennen. Die Gefühle, die der Analytiker entwickelt, wenn er einem Patienten begegnet, dienen ihm als Werkzeug. Zusammen mit dem Patienten kann der Analytiker beobachten, wie sich die Beziehung gestaltet. Dabei gibt es keine „falschen“ oder „richtigen“ Gefühle. Jedes Gefühl und jeder Gedanke hat seine Berechtigung – sowohl beim Therapeuten als auch beim Patienten. Der Sinn der Analyse von Übertragung und Gegenübertragung besteht nun darin, herauszufinden, an welchen Stellen altbekannte Übertragungen stattfinden.
Quelle: Erika Krejci (Freiburg): Abstinenz: ein zentrales technisches Konzept der Psychoanalyse im historischen Wandel. Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXVII, 2012, 3/4: S. 410
Verstehen löst alte Muster auf – ein Beispiel:
Ein Kind hat eine Mutter, die dem Kind nicht viel Gutes gönnt. Dieses Kind wird erwachsen. Der Erwachsene sucht eine Therapeutin auf, weil er unter seinen Beziehungsschwierigkeiten leidet. Schon bald wird er das Gefühl haben, dass die Therapeutin ihm nichts Gutes gönnt. Dann können Therapeutin und Patient schauen, inwieweit das stimmt oder ob der Patient generell dazu neigt, in anderen die „wenig gönnerhafte Mutter“ zu sehen.
Im Laufe der Therapie stellt der Patient vielleicht fest, dass ihm die Therapeutin sehr wohl sein Glück gönnt. Er kann dann neue Vorstellungen über die Therapeutin entwickeln. Es ist dann gelungen, das Mutter-Bild von dem Bild anderer Frauen zu trennen. Wenn die Therapie gelingt, dann hat der Erwachsene nicht mehr so leicht das Gefühl, andere Frauen würden ihm nichts gönnen. Er kann dann besser unterscheiden, ob er wirklich einer wenig gönnerhaften Frau gegenübersteht, oder ob er einer Frau Missgunst unterstellt, obwohl da keine Missgunst ist. Wenn Übertragungs- und Gegenübertragungssituationen in der Therapie verstanden wurden, gelingt es dem Patienten meistens, sich freier zu bewegen und Beziehungen neu zu gestalten, weil er sich selbst besser kennt und somit auch andere besser einschätzen kann.
Bei der „Übertragung“ gebe ich dem anderen eine Rolle – ich meine, im anderen die Eigenschaften meines Vaters, meiner Mutter oder anderer Personen wiederzuerkennen. Ich stülpe dem anderen quasi eine Rolle über.
Bei der Projektion schiebe ich eigene Gefühle auf den anderen. Ich fühle diese Gefühle nicht mehr bei mir, sondern sehe sie beim anderen.
Beispiel einer Projektion: „Der andere ist ja sauer, ich nicht!“
Beispiel einer Übertraung: „Der ist immer genauso griesgrämig wie mein Vater.“
Verwandte Artikel in diesem Blog:
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Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference focused psychotherapy, TFP)
Projektive Identifizierung
Quellen und Links:
Stefan Ahrens:
Lehrbuch der psychotherapeutischen Medizin
Schattauer Verlag, Stuttgart 1997: 167–169
Margaret I. Little (1901-1994)
Autorin von
„Countertransference and the patient’s response to it“
IJP 32, 1951, 32-40
www.psychoanalytikerinnen.de
Dieser Beitrag erschien erstmals am 26.1.2013
Aktualisiert am 7.1.2016