Es erinnert mich alles irgendwie an einen Sorgerechtsstreit: Da schaukeln sich zwei Seiten hoch. Es ist, als steckten keine Menschen mehr dahinter, sondern als gäbe es nur noch Mandant 1 und Mandant 2, Antragssteller und Antragsgegner. Im psychotherapeutischen Einzelgespräch lassen sich beide Seiten verstehen. Oft ist man erschüttert, was „der böse andere“ wirklich denkt. „Die Rassisten“ (wie auch immer sie als Einheit aussehen mögen) machen es uns leicht: Sie sind „gegen Flüchtlinge, gegen Ausländer“ (wie auch immer sie als Einheit aussehen mögen). Der Rassismus macht mir Sorgen. Doch auch der immer größer werdende Anti-Rassismus bereitet mir Unbehagen.
Verloren
Viele junge, gewaltbereite Männer haben Ausgrenzung bereits am eigenen Leibe erfahren. Viele haben selbst unter Gewalt in der Familie gelitten, ohne dass ihnen jemand geholfen hätte. Viele können nur auf wenige verlässliche Beziehungen zurückgreifen, sehnen sich nach Sicherheit, müssen ihre Ängste hinter Aggressionen verstecken (siehe Beitrag „Aggressionen vorbeugen heißt Rassismus vorbeugen“). Viele kennen das Außenseitertum bereits aus der Schule. Sie waren vielleicht schon von Anfang an von den Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen.
Jetzt können sie gegen andere „Außenseiter“ kämpfen – das entlastet sie. Doch es sind häufig Menschen, die zuvor selbst vergessen wurden. Für sie wurde nichts getan. Und nun wird so viel für die Ausländer getan, so könnte der Gedanke lauten. Da kommt Neid auf und vielleicht auch die Angst, nun völlig ins Abseits zu gelangen. Die einzige Lösung für die betroffenen Menschen besteht scheinbar darin, sich zusammenzutun und endlich gesehen zu werden – wenn auch im negativen Sinn.
Das Ende des schlechten Gewissens
Wem es besser geht und wer hinschaut, kann da ein schlechtes Gewissen bekommen. Unser System hat hier versagt. Doch jetzt braucht’s kein schlechtes Gewissen mehr: Die Rassisten wenden Gewalt an und man darf sie hassen. Wir brauchen daher über zwei Dinge scheinbar nicht mehr nachzudenken: Über die Rassisten (woher kommen sie, was sind das für Menschen, weshalb denken sie, wie sie denken?) und über uns selbst. Wie fühlen wir uns denn?
Angst
Kürzlich war ich in einem Schwimmbad eines „sozialen Brennpunktes“. Ich war am späteren Abend gefühlt nur noch die einzige Deutsche in diesem Bad. Die Einzige, die akzentfrei sprach und hellhäutig war. Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf: Es war mir, als sei ich im Urlaub in einem fremden Land und könnte nicht mehr nach Hause fahren. Die jungen Leute sahen attraktiv aus, sie waren sportlich und muskulös. Aber als Einzige dort fühlte ich mich auf einmal auch etwas unwohl – fast nicht mehr heimisch. Sie sprachen ihre Sprache und ich verstand nichts.
Die Phantasie ist oft stärker als die Statistik
Zu viele Fremde um mich herum ließen mich etwas verloren fühlen, auch wenn ich mit Einigen nette Blickkontakte hatte. Ich hatte kurz den Gedanken: Was, wenn es nur noch so ist? Wenn ich in meiner Heimat auf einmal fremd bin? Dann machte ich mir klar, dass dies nur ein momentaner Eindruck ist.
Meine eigenen Wurzeln liegen teilweise in einer anderen Kultur. Daher arbeite ich in der Psychoanalyse selbst gerne mit Menschen aus anderen Kulturen zusammen. Ich finde das immer spannend, immer bewegend, bereichernd und interessant. Oft bin ich sehr froh über meinen eigenen halben Migrationshintergrund. Kann ich doch andere Kulturen daher oft gut verstehen. Meine Gefühle und Gedanken sind oft gemischt. Und das ist gut so. Gemischte Gefühle und Gedanken, die man mal stehen lassen kann, kann man sich anschauen.
Öffentlichkeit
Doch was darf man noch denken? Was darf man aussprechen? Eine eigene Haltung ist unerlässlich, ja. Aber wenn wir so hart werden gegen alles, was „Rassismus“ ist (oder zu sein scheint), dann schränken wir uns selbst auch ein. Verstehen, verstehen, verstehen – darum sollte es gehen. Eine Gruppe funktioniert ähnlich wie die Psyche im einzelnen Menschen: Da gibt es Triebe, Abwehr, Gedanken, Wünsche, Verbote und Ängste. Was wir in uns selbst nicht haben wollen, projizieren wir gerne nach außen: Der andere soll böse sein, während wir selbst gut sind.
„Die Rassisten“ sind „für uns“ die Bösen, so wie „die Ausländer“ für „die Rassisten“ die Bösen sind. Da sind viele psychische Ausscheidungs- und Abschiebeprozesse im Gang. Zugegeben: Das Interesse schwindet, wenn eine Seite Gewalt anwendet. Doch wenn sich die Gemüter wieder beruhigt haben, kann auch das Interesse wieder wachsen. Wir sollten dafür Platz lassen. Sehr viel mehr Fragen stellen.
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