Psychiater und Psychoanalytiker sind nicht gerade die besten Freunde. Während die Psychiater vergleichsweise schnell mit Diagnosen und Medikamenten zur Hand sind, verhalten sich die Psychoanalytiker zurückhaltender – sie beobachten erst einmal, was in der Beziehung genau passiert. (Text: © Dunja Voos, Bild: © Dieter Schütz, Pixelio)
Altbekanntes in neuem Gewand
Störungen, die in der Psychoanalyse schon lange bekannt sind und behandelt werden, erhalten durch neue Namensgebungen in der Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit. Oft hat man das Gefühl, die Störungen seien brandneu und gerade entdeckt. Dabei wird vieles, was längst bekannt ist, nur in neuen Kleidern präsentiert.
Äußere und innere Zustände
Bestes Beispiel ist wohl das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) – hier werden eine Reihe von Symptomen aufgelistet und dann unter dem Namen “ADHS” zusammengefasst. Als “Komorbiditäten”, also als “Nebenerkrankungen”, werden dann weitere Störungen wie z.B. Ängste aufgelistet. Doch die Ängste sind ein Teil des Problems, keine Nebenerkrankung.
Psychoanalytiker behandeln Menschen mit ADHS schon lange. Nur stehen bei ihnen nicht die Symptome im Vordergrund, sondern die inneren Zusammenhänge. Dabei lassen sich Zusammenhänge herstellen zwischen Kummer und Unruhe, zwischen Sprachlosigkeit, Vaterlosigkeit, Verdrängung und Bewegungsdrang, zwischen der lähmenden Depression der Mutter und der antreibenden Unruhe des Kindes. Dabei spielt bereits die frühe Entwicklung des Kindes eine Rolle: Schreibabys können ihre Unruhe behalten und unter Umständen ADHS-Symptome entwickeln.
Die innere Welt ist den Psychoanalytikern wichtig
Die Analytiker konzentrieren sich auf die innere Welt des Patienten, also auf seine Psychodynamik, wohingegen sich Psychiater hauptsächlich auf die äußeren Anzeichen beziehen. Und auch hier werden verschiedene Begriffe verwendet. Der Psychiater sagt: “Das Kind hat Schwierigkeiten mit seinen exekutiven Funktionen.” Schaut man in den Lehrbüchern nach, so findet man schnell Parallelen zum Begriff Ich-Funktionen aus der Psychoanalyse. Gemeint ist in beiden Fällen unter anderem die Fähigkeit, Gefühle und Affekte zu steuern. Nur wer seine Affekte kennt und verarbeiten kann, ist fähig, sich zu organisieren, Handlungen zu planen und angemessen zu handeln.
ADHS, Asperger, Hypersensibilität
Immer neue Begriffe machen die Runde. Wo man früher einfach “Hysterische Neurose” sagte, gibt es heute die “Histrionische Persönlichkeitsstörung”, die “Konversionsstörung” und die “Dissoziation”. Auch der Begriff “manisch-depressiv” ist aufgrund seiner negativen Färbung nur noch selten anzutreffen, stattdessen spricht man von “bipolarer Störung”.
Wenn man sich auf einen Diagnosenamen festlegen will, ist das unglaublich schwierig, denn jeder Mensch ist viel zu komplex, um sich auf eine Diagnose reduzieren zu lassen. Es hier nicht wie bei körperlichen Erkrankungen, wo man den Gallenstein im Ultraschall sieht. Psychologische Diagnosen beruhen auf Beobachtungen, Theorien und Erfahrungen. Die Namen für die “Störungen” entstehen dann erst nach einer Weile des Beobachtens. Und so überrascht es viele, dass auch die Diagnose “Asperger” nicht neu ist – den Analytikern ist sie schon lange als “schizoide Neurose” vertraut. Zwei Namen, die eigentlich dasselbe beschreiben.
Der Vorteil und Nachteil der Namen
Wer psychisch leidet, sucht schnell nach einer Lösung. Gerade Eltern, die mit ihren Kindern nicht weiter wissen, lesen alles, was ihnen unter die Augen kommt und versuchen, das einzuordnen, was sie mit ihrem Kind erleben. Diagnosenamen und Medikamente können erst einmal für Erleichterung sorgen. Doch auf Dauer kehren die Fragen und Unsicherheiten zurück. Oft fühlen sich die Betroffenen irgendwie dafür schuldig, dass sie nicht ins Schema passen. Diagnosenamen für Orientierung sorgen, aber auch stark verunsichern und verwirren. Je besser sich die Betroffenen kennenlernen, desto unabhängiger werden sie von irgendwelchen Diagnose-Bezeichnungen.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 7.11.2011
Aktualisiert am 30.5.2015