“Mein Baby war ein Schreibaby und ich habe das Gefühl, dass das nie aufgehört hat. Immer ist mein Kind unruhiger und auffälliger geblieben.” So beschreiben es viele betroffene Mütter. Eine aktuelle Studie von Iná S. Santos und Kollegen der Universität Pelotas, Brasilien, gibt ihnen Recht: Kinder, die mit drei Monaten exzessiv schreien, zeigen im Alter von vier Jahren häufiger Verhaltensauffälligkeiten als ruhigere Babys. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Wann schreit ein Baby zu viel?
Den Eltern von Schreibabys ist so eine Definition herzlich egal. Wer ein Schreibaby hat, der merkt das sehr schnell. Auch die entspannte Tante, die meint, die Eltern seien einfach unfähig, stellt rasch fest, dass dieses Baby anders ist, wenn sie versucht, es einmal zu beruhigen. Schreibabys strecken sich im Arm und sind für jeglichen Beruhigungsversuch nicht mehr erreichbar.
Mütter bemerken genau, wenn ein Baby zu viel schreit
Ab dem Jahr 2004 untersuchte die Psychologin Iná Santos zusammen mit ihren Kollegen über 4000 junge Mütter und ihre Babys (Studie). Um die genaue Stundenzahl des Schreiens zu ermitteln, wären eigentlich Messgeräte notwendig. Doch dies sei für eine so große Studie zu teuer und nicht umsetzbar, erklären die Autoren.
Somit besuchten Studienmitarbeiter die Mütter, als ihre Babys drei Monate alt waren und fragten sie, ob ihr Baby mehr, weniger oder ungefähr genauso viel wie andere Babys schreit. Die Antwort der Mütter ist natürlich subjektiv – möglicherweise gibt es auch empfindliche Mütter, die bereits ein normales Schreien als exzessives Schreien empfinden. Andererseits zeigt sich bei geplagten Eltern, die eine Schreibaby-Ambulanz aufsuchen, recht schnell, dass ihr Kind tatsächlich mehr schreit als andere.
Etwa 10% der Babys schreien exzessiv
In der Studie von Ina Santos schrien knapp 12% der Babys nach Angaben der Mütter exzessiv. Dies entspricht in etwa dem Ergebnis einer niederländischen Studie aus dem Jahr 2001: Hiernach liegen die Prävalenzraten (also die Zahl der betroffenen Kinder) je nach Definition des exzessiven Schreiens bei 1,5-11,9% (Reijneveld S. et al., 2001). Ältere und gebildetere Mütter hatten in dieser Studie seltener ein Schreibaby als jüngere Frauen mit einem niedrigeren Bildungsgrad.
Auffällig mit vier Jahren
Rund 30% der Schreibabys waren – gemessen mithilfe der Children Behavioral Checklist (CBCL) – mit vier Jahren auffällig. Sie zeigten ein unruhiges, an ADHS erinnerndes Verhalten. Von den Kindern, die in der Babyzeit nicht übermäßig schrien, zeigten hingegen nur 20% ein auffälliges Verhalten, so das Ergebnis der brasilianischen Studie. Doch wie könnte das zusammenhängen?
Offensichtlich spielt die Verfassung der Mutter bei frühen Regulationsstörungen, also bei Störungen des Schlafs, des Essens und Trinkens sowie der Verdauung, eine große Rolle. Die Entwicklungspsychobiologin und Psychiaterin Mechthild Papousek und Kollegen stellen dies in ihrem Buch “Frühe Regulationsstörungen” (Hans-Huber-Verlag, 2010) dar. Es gibt Babys, die relativ schlecht kommunizieren können und Mütter und Väter, die schlecht “im Baby lesen” können. Daher sei der eigentliche Patient oft “die Beziehung”, so Papousek.
Stress reduziert die Fähigkeit, sich einzufühlen
Angespannte und ängstliche Mütter können schlechter auf ihr Kind eingehen als entspanntere Mütter. Eine besondere Rolle spielt eine erhöhte Ängstlichkeit der Mutter, die schon vor der Geburt bestand. Eine Studie von Bea Van den Bergh und Alfons Marceon (Universität Leuven, Belgien) mit 71 Müttern kam zu dem Ergebnis, dass eine erhöhte Ängstlichkeit der Mutter die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ihr Kind mit 8- bis 9 Jahren ADHS-Symptome zeigt. Dieses Ergebnis geht Hand in Hand mit Studienergebnissen der Psychologin Johanna Petzoldt und Kollegen der Technischen Universität Dresden: Werdende Mütter mit Angststörungen haben häufiger Kinder, die exzessiv schreien.
Die Kommunikation verbessern
Die psychische Verfassung der Mutter, exzessives Schreien sowie spätere ADHS-Symptome hängen also eng zusammen. Doch auch der Vater spielt eine Rolle. Der Kinderanalytiker Hans Hopf beschreibt in seinem Buch “Die Psychoanalyse des Jungen” (Klett-Cotta, 2. Auflage 2015) dass der “fehlende Vater” zur Entwicklung von ADHS-Symptomen beiträgt. Gleichzeitig sind Mütter sehr belastet, die ihre Kinder ohne Vater oder in starken Konflikten mit dem Vater aufziehen müssen. Manche Kinder versuchen auch, die depressive Mutter durch ein hyperaktives Verhalten zu stimulieren (siehe Frankfurter Präventionsstudie zu ADHS, Professor Marianne Leuzinger-Bohleber).
Baby und Eltern gehen auf Abstand
Schreit ein Baby extrem viel und können die Eltern ihr Baby nicht beruhigen, so halten sie eine Art Sicherheitsabstand. Sie fragen sich immer: Wann schreit mein Baby wieder? Andererseits versuchen sie ständig vorzubeugen und reagieren oft früh oder inadäquat auf die Äußerungen des Babys. Über die dysfunktionale Interaktion zwischen Vater und Kind bzw. Mutter und Kind schreiben auch die finnischen Autoren Hannele Räihä und Kollegen der Universität Turku.
Windelfrei – ein neuer Trend (Elimination Communication)
Einen neuen Lösungs-Ansatz könnte hier die Windelfrei-Bewegung hier liefern. Studien haben gezeigt, dass das Tragen des Babys und eine relativ frühe Reaktion auf die Äußerungen des Babys das Schreien reduzieren kann (Urs A. Hunziker und Ronald G. Barr, 1986). Das exzessive Schreien wird zudem oft mit den “Dreimonatskoliken” in Verbindung gebracht: Das Baby streckt sich, verkrampft sich, schreit und möchte sich offensichtlich entleeren, aber hat keinen Erfolg. Befürworter der windelfreien Babyzeit sagen, dass Babys einfach nicht ihr Nest beschmutzen möchten.
Die Kommunikation mit dem Baby macht wieder Spaß
Viele Eltern, die ihr Baby früh abhalten, sind überrascht, wie sehr das Baby mit ihnen kommunizieren möchte und was es ihnen sagt. Durch die sogenannte Elimination Communication (Elimination = Ausscheidung) steht die Mutter in einer feinfühligen Verbindung mit dem Kind. Sie kann sich besser auf das Kind einstimmen. Aber auch hierfür ist es von Vorteil, wenn sich die Mutter in einem relativ entspannten Umfeld bewegt, selbst bemuttert wird und relativ frei von Sorgen ist. Doch in so einer idealen Welt leben heute nur wenige Mütter. Stress macht es schwierig, offen für diese Art der Kommunikation zu sein. Aber dennoch ist es eine Möglichkeit, vielleicht besonders auch für gestresste Mütter. Positive Rückkopplungserfahrungen mit dem Baby können zu dem Gefühl führen, wieder mehr Kontrolle zu haben, fähiger und entspannter zu sein.
Weitere Informationen
Eltern, die sich hierfür interessieren, finden Informationen z.B. auf der Website der Ärztin Sarah Buckley. Gesammelte Informationen und Adressen zum Thema Schreibaby hält die Website www.trostreich.de von Jutta Riedel-Henck bereit. Besonders bekannt ist auch die Münchner Sprechstunde für Schreibabys des Kinderzentrums München.
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