„Projektive Identifizierung“ ist so ein wunderbarer Begriff, der in der Kleinkindforschung und in der Psychoanalyse verwendet wird: Das Kind/der andere findet keine Worte für seinen Zustand. Also macht der andere, dass wir uns fühlen, so wie er sich fühlt. Wenn wir wieder die Nachricht erhalten, dass da einer um sich geschossen hat, dann fühlen wir uns wütend, hilflos, allein, in Rage. Wir spüren Rachsucht, haben Albträume, können nicht schlafen, uns fehlen die Worte. Wir können davon ausgehen, dass der Amokläufer sehr Ähnliches fühlte wie das, was er in uns auslöst. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Die Abwehr verschleiert das Bild
„Das kann gar nicht sein“, werden Sie vielleicht einwenden: „Der Amokläufer fühlte sich großartig und mächtig.“ Vordergründig in den letzten Momenten seines Lebens vielleicht ja. Aber dieses Allmachtsgefühl ist nur die Abwehr eines großen Ohnmachtsgefühls. Und auch das spiegelt sich in unserer Reaktion wider. Wir sagen: „Wir wollen den Tätern zeigen, dass wir uns nicht beirren lassen! Wir werden den Terror bekämpfen und unseren Alltag normal fortsetzen. Wir werden uns nicht unterkriegen lassen.“ Wir versuchen, „Stimmung“ zu machen, uns Mut zu machen, als Reaktion auf unsere primäre Hilflosigkeit und Ratlosigkeit.
Weg mit den Etiketten
Auf der Suche nach Halt und Sicherheit versuchen wir es mit „Etiketten“. Aber es ist nicht „der Islam“, es ist nicht „die Depression“, die zu Amokläufen führen. Doch was ist es dann? Es ist die psychische Bedrängnis. Psychisches Leid entsteht immer wieder nach ähnlichen Prinzipien: So, wie Mangelernährung zu körperlichen Erkrankungen führt, so führt die Mangelernährung der Seele zu psychischen Krankheiten.
Das Kind musste immer wieder erfahren, dass es von Gruppen abgelehnt wurde, es hat seine Wurzeln verloren (wenn es denn je welche hatte), es hat Gewalt erlebt. Es kam nicht in den Genuss von Bildung, es konnte zu wenig in Worte fassen, wie es ihm geht. Es hat keine Bindungen, keine Beziehungen, keine Zukunft. Wie schnell kann aus der hoffnungslosen Situation Gewalt entstehen.
Was bei Gesunden funktioniert, funktioniert bei psychisch kranken Menschen oft nicht
„Aber jeder ist doch auch seines Glückes Schmied, jeder muss doch auch Verantwortung tragen, jeder kann doch seine Situation verbessern“, sagen „wir“, die wir gesund sind. Ich finde es immer erstaunlich, dass wir dieses Bild von der Psyche haben. Wir kämen doch nicht auf die Idee, einem Menschen mit nur einem Arm zu sagen, er solle mit beiden Händen nach dem Apfel greifen. Genauso verhält es sich mit der Psyche: Gesunde Worte wie „Dankbarkeit“, „Verantwortung“, „Wertschätzung“ oder „Selbstwirksamkeit“ sind denen, die das alles nie spüren konnten, völlig fremd. Diese Zweige sind in dem „Baum Psyche“ sozusagen nicht vorhanden. Sie können mit viel Glück erst langsam wachsen, zum Beispiel, wenn solche Patienten die richtige Therapie erhalten.
Das „Böse“ ist uns immer nah
Was wir „böse“ nennen, ist uns immer nah. Bekommen wir nichts zu essen, werden wir in einer Menge eingequetscht, werden wir auf dem Amt gedemütigt, werden wir „böse“ und neidisch. Doch was wir als „böse“ bezeichnen, ist doch eigentlich immer nur eine Folge des Mangels an Gutem und Verbundheit. Die Abwesenheit der guten Mutter erlebt ein Kind als die Anwesenheit von etwas Bösem, das sich in dem Gefühl des Alleinseins, der Kälte, des Hungers, der Trostlosigkeit äußert. Kinder von Eltern, die Gewalt anwenden, sagen später sehr oft in der Therapie: „Ich habe halt immer auch das Gute hinter der bösen Maske meiner Mutter/meines Vaters gesehen.“
„Demons“
Das Lied „Demons“ ist zur Zeit „inn“. Es zeigt sehr schön, wie wir den „Teufel in uns“ spüren. Wir haben diese dunklen Seiten, diese Schatten. Wir fürchten uns so oft vor uns selbst, aber auch vor unseren nächsten Mitmenschen, weil wir wissen, dass es diese Seiten gibt. Es gibt nicht nur den Lebenstrieb, sondern eben auch den von Sigmund Freud beschriebenen „Todestrieb“. Die Lust an der Zerstörung kennen wohl die meisten Menschen. Und wie schön ist es bei Kindern zu sehen, mit wieviel Freude sie ihren selbstgebauten Turm zerschlagen.
Der Schlüssel: Das Verständnis
Je mehr Verständnis wir für uns selbst haben und je ehrlicher wir mit uns selbst umgehen, desto leichter wird es uns gelingen, die vermeintlich „bösen Menschen“ zu verstehen. Wer traumatisiert ist, zeigt leider oft nur sein grausames Gesicht. Alles, was in einer einzelnen Person ablaufen kann, kann auch in Gruppen ablaufen. Und natürlich werden Gruppen dann gefährlich. Und doch: In der Psychoanalyse erleben Analytiker jeden Tag, wie rasch rasende Wut und Hass abklingen können, wenn sich der Patient plötzlich vom Analytiker verstanden fühlt. Häufig verschließen sich psychisch kranke Menschen dem „Verstehen“ oder der Warmherzigkeit eines anderen. Aber wir können davon ausgehen, dass die Sehnsucht danach immer da ist.
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