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Schichtwechsel – wenn man die Schicht von „unten nach oben“ wechselt

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schichtwechselOft ist es nichts weiter als eine Kette von Zufällen, Fügungen oder wie immer man es nennen mag: Die Grundschullehrerin ermuntert das Kind, Klavier zu lernen, sie empfiehlt das Gymnasium. Der Mathelehrer kommt rein, glaubt an das Kind und wird zum Vorbild. Das Kind lernt eine neue Welt kennen: die Welt der Bildung. Es geht ruhiger zu, es gibt mehr Worte statt Geschrei, es gibt viele neue Worte, die Möglichkeit zu sprechen, zu kommunizieren, die Kreativität zu entdecken. Und plötzlich hat man das Abitur geschafft und denkt über ein Studium nach. (Text & Bild: © Dunja Voos)

Zweifel, Zeit- und Kraftaufwand

Früh spürt das Kind: Das ist kein leichter Weg. Es braucht irgendwie mehr Kraft als die anderen und mehr Zeit. Es sieht, dass andere gesünder aussehen. Die Eltern fangen an, das Kind als „arrogant“ zu bezeichnen. Es ist das erste Kind in der Familie mit Abitur. Es beginnt ein Studium und psychische Beschwerden melden sich: Zwänge, Ängste, vielleicht Depressionen oder Essstörungen. Es hat viele Zweifel: „Kann ich es schaffen?“, fragt es sich unentwegt.

Die Eltern vor Augen

Das Kind hat die Eltern vor Augen, die alte Familie. Dort durfte und konnte vielleicht kaum etwas erblühen. Dort ging es anders zu. Die Eltern hatten vielleicht immer wenig Geld. Das Kind hat das Bild: „Mir wird es genauso gehen.“ Die Eltern griffen vielleicht schneller zum Alkohol und zeigten sich hilflos.

Das Kind ist aus der Familie herausgetreten. Aber es ist noch nicht in der „neuen Welt“ angekommen. Es ist in einem komischen Zwischenraum. Es hält sich an Menschen fest, die sehen, was es kann und will.

Herausgekommen

Das Kind schafft tatsächlich das Studium, findet tatsächlich eine Stelle. Es traut sich, zu promovieren. Der Bruch zur alten Familie ist vielleicht unmerklich, vielleicht heftig gekommen. Das Kind schaut nach vorne. „Bloß nicht nach hinten schauen“, denkt es sich, um es zu schaffen. Es hat sich tatsächlich mithilfe von guten Menschen „nach oben“ gearbeitet. Es freut sich, aber es kann seine Freude so schlecht teilen. Es fühlt sich vielleicht „Familien-los“.

„Wer Beziehungen hat, ist im Vorteil“, sagen sich viele, die aus der „unteren Schicht“ kommen, resigniert. Aber man darf nicht vergessen, dass man sich selbst Beziehungen aufbauen kann.

Wie eine neue Kultur

Die soziale Schicht zu wechseln kann sich anfühlen wie in ein fremdes Land zu gehen. Wie eine neue Sprache zu lernen, ähnlich wie bei „Pretty Woman“ oder „My Fair Lady“. Man muss sich anpassen, man muss die Regeln kennenlernen und fühlt sich vielleicht wie jemand, der zu spät begonnen hat, ein Musikinstrument zu erlernen, um es studieren zu können. Das Kleinhirn hat die Automatismen nicht aufgenommen. Es ist „angelernt“, das „Sich-Bewegen in der neuen Schicht“. Die anderen merken das. Und der Kampf währt fort.

Sich Zeit nehmen

Der Schichtwechsel „nach oben“ kostet Kraft. Irgendwann kann man etwas entspannen und merkt, dass man sicherer wird in der neuen Welt. Es kommt die Phase, in der man die neue und die alte Welt miteinander verbinden kann. Aber man braucht Geduld, kämpft häufig mit Neid. Irgendwann ist man überwiegend da und kann die Talente nutzen, die auf dem Weg gefördert wurden. Man hat gelernt, durchzuhalten, den Willen zu nähren, die Hoffnung zu bewahren, der Intuition zu vertrauen, „gute“ von „schlechten Menschen“ zu unterscheiden, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Man ist sozusagen „zweisprachig“ aufgewachsen und kann verschiedene Kulturen verstehen. Die Menschen merken das. Und würdigen es – ein gutes Gefühl.

Verwandte Beiträge in diesem Blog:

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Was macht Bildung mit unserem Gesicht?
Arbeiterkind.de: Für Kinder aus „nicht-studierten“ Familien

Links:

Mirijam Günter:
„Und ich sehe ihre Wut“
9.7.2016, DIE ZEIT Nr. 27/2016, 23. Juni 2016
www.zeit.de/2016/27/ausgrenzung-bildung-klassengesellschaft-anerkennung

Marco Maurer:
Ich Arbeiterkind
24. Januar 2013, DIE ZEIT Nr. 5/2013
www.zeit.de/2013/05/Arbeiterkind-Schulsystem-Aufstieg


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