„Ich habe Beziehungsangst“, sagt man vielleicht. Aber was heißt das überhaupt? Ein bisschen Beziehungsangst haben wohl die meisten Menschen – besonders dann, wenn sie gerade neue Beziehungen knüpfen. Beziehungsangst sieht bei jedem Menschen anders aus – und doch gibt es viele Gemeinsamkeiten. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Angst vor Selbstaufgabe
Wer befürchtet, um einer Partnerschaft willen sich selbst, seinen Beruf, alte Verbindungen oder Angewohnheiten aufgeben zu müssen, der leidet unter Beziehungsangst. Manche Menschen fürchten schon um ihre Beziehung, wenn sie andere Vorstellungen haben als der Partner. Doch wer keinen Privatraum in der Beziehung hat, der kann keine befriedigende Beziehung führen.
Sich fallen lassen und dennoch stark sein dürfen
Vielen Menschen fällt es schwer, sich einem anderen Menschen hinzugeben, weil sie befürchten, damit ihre Selbstständigkeit aufzugeben. Erst wenn sie sich sicher sind, dass ihr Gegenüber sie nicht mit Haut und Haaren vereinnahmt, sondern daran interessiert ist, dass sie wachsen und sich entwickeln, können sie sich auf die Beziehung einlassen.
Tür zu!
Kinder, die vor ihren Eltern niemals die „Tür zu“ machen durften, zögern auch als Erwachsene oft, ihrem Wunsch nach dem Alleinsein nachzukommen. Wer solche Erfahrungen gemacht hat, fühlt sich in Anwesenheit eines anderen oft wie gelähmt. Es taucht die Vorstellung auf, nicht mehr weglaufen zu können, wenn sich ein Partner liebevoll nähert. Manche Menschen suchen sich dann lieber einen Partner aus, der etwas Abstoßendes an sich hat oder der wenig liebenswert ist, weil das vor dem Sog der Liebe schützt. Das geht bei manchen so weit, dass sie sich Partner aussuchen, die sie wortwörtlich „zum Kotzen“ finden. Die Gefahr, dass einer den anderen verschlingt, scheint somit gebannt.
Verachtung
Ein Kind, das meist nur Verachtung von den Eltern erlebt hat, wird auch als Erwachsener glauben, dass es verachtungswürdig ist. Dieser Erwachsene erwartet förmlich, von anderen verachtet zu werden – teilweise provoziert er sogar die Verachtung, weil es ihm so ein vertrautes Gefühl ist. Und weil Verachtung ihm so nahe ist, tendiert er selbst dazu, andere leicht zu verachten. Die Verachtung „hilft“ dabei, Wünsche nach Abhängigkeit zu verdrängen. Verachtende Gefühle sind ein „Abstandhalter“ zum anderen. Erst, wenn diese Mechanismen bewusst werden, kann der Erwachsene aus dieser Situation herauswachsen.
Die geschundene Seele
Sowohl seelische als auch körperliche Angriffe der Eltern schunden die Seele eines Kindes zutiefst. Diese Wunden sind beim Erwachsenen oft noch vorhanden. Die Liebe eines anderen wirkt dann wie ein echter Schmerz. So, wie die Haut eines Verbrannten keine liebevolle Berührung erträgt, so fühlt die geschundene Seele Schmerz, wenn sich jemand liebevoll nähert. Auch dieser Schmerz kann wiederum ein Schutzschild sein. Erst, wenn dieser Erwachsene wirklich begriffen hat, dass der andere weder angreift, noch schlägt oder verschlingt, dann heilen Seele und Haut. Erst dann sind liebevolle Berührungen wieder möglich und werden als Wohltat empfunden.
Der Unterschied macht den Schmerz
Aber auch aus einem anderen Grund kann die Liebe des anderen als Schmerz empfunden werden: Ein Kind, das von den Eltern nicht liebevoll behandelt wird, spürt den großen Unterschied zwischen dem „Ist-Zustand“ und dem „Soll-Zustand“. Es selbst liebt die Eltern und es ist auf die Liebe der Eltern angewiesen. Wenn auf Dauer aber diese Liebe nicht zu erhalten ist, dann spürt das Kind die ungeheure Sehnsucht nach Liebe, die nicht erfüllt wird. Irgendwann wird es diese Sehnsucht unterdrücken und kalt durch die Welt gehen, weil es glaubt, nicht liebenswürdig zu sein und von den anderen nichts erwarten zu können. Tritt dann doch die „große Liebe“ ins Leben, wird die Kluft wieder spürbar: Der Erwachsene erinnert sich daran, wie es war, so bedürftig zu sein und dennoch keine Liebe zu erhalten. Es macht dem Betroffenen Angst, wenn ihm Liebe entgegengebracht wird. Es geht ja auch ohne Liebe, denkt er sich. Man braucht viel Mut und oft viel psychotherapeutische Hilfe, um sich für das Gute zu entscheiden.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 5.10.2011
Aktualisiert am 5.7.2015