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Sexueller Missbrauch im Nebel

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Sexueller Missbrauch bedeutet nicht immer offensichtliche Gewalt. Sexueller Missbrauch kann schon der erregte Blick des Vaters auf das kleine Mädchen sein. Es sind Bemerkungen zu Figur und zum Aussehen. Es sind Berührungen, von denen das Kind lange Zeit glaubt, dass sie nichts Schlimmes seien. Es ist das alkoholisierte, sexualisierte Klima, das krank macht. (Text: © Dunja Voos. Bild: © by sassi, Pixelio)

An den ersten Freund ist lange nicht zu denken

Meistens fühlt sich das missbrauchte Kind bereits in der Jugend unwohl in seiner Haut. Es leidet unter Akne und dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Wo andere schon längst einen ersten Freund haben, ist für das missbrauchte Mädchen noch lange nicht daran zu denken. Und im Erwachsenenalter stehen auf einmal Einsamkeit, Beziehungslosigkeit und psychische Störungen vor der Tür.

Schuld, Scham und Verlorensein

Werden Kinder von einem Elternteil missbraucht, hat das Kind das Gefühl, völlig verloren zu sein. Wenn der Vater der Missbrauchende ist, dann steht er nicht mehr als Vater zur Verfügung und zur Mutter kann das Kind mit seinem Kummer nicht gehen. Beide Eltern sind am Missbrauch beteiligt, auch wenn nur ein Elternteil aktiv handelt. Das Kind fühlt sich ohnmächtig und gleicht dieses Ohnmachtsgefühl aus, indem es sich zeitweise „allmächtig“ fühlt. Dann wiederum bekommt es Schuldgefühle und denkt, die Schuld des Missbrauchs läge bei ihm. Dieses Scham- und Schuldgefühl wird dadurch verstärkt, dass die Missbrauchssituation auch beim Kind zur Erregtheit führen kann. Dafür schämt es sich später zutiefst. Die eigenen Erregungen hindern es möglicherweise daran, Worte zu finden und Hilfe zu suchen.

Vieles wird mit Sexualität verbunden

(Auch Männer sind häufig von Missbrauch betroffen. Hier kann die Website von Norbert Denef hilfreich sein. Im Folgenden sind jedoch Beispiele für Gefühlslagen aus der Sicht betroffener Frauen beschrieben.)
Männer, die sich liebevoll annähern, werden leicht als „schmierig“ erlebt. Komplimente werden gedeutet als eine „Falle“. Alles ist Verführung. Die Frage lautet stets: „Was will der wohl von mir?“ Was andere tun oder sagen, bekommt leicht einen sexuellen Anstrich.

Für Opfer sexuellen Missbrauchs kann ein ganz normaler Arztbesuch zur Mutprobe werden, weil auch hier rasch (oft unbewusste) Gedanken an die Sexualität auftauchen. Ekel ist leicht erweckt, weil alles schnell zu nah erscheint. Neutrale Alltagssituationen wie Essen oder Sport werden allzuleicht mit Sexualität verknüpft. Die Betroffenen fühlen sich selbst „schmutzig“ – sie haben das Gefühl, schlecht zu riechen oder nicht mehr richtig sauber zu werden. Das macht das Leben der Betroffenen anstrengend.

Die Weiblichkeit wird verhüllt

Die Anstrengung beginnt schon bei der Kleiderwahl. Nicht selten kleiden sich ehemals missbrauchte Frauen wie graue Mäuschen. Sie möchten auf keinen Fall, dass ein Mann ihre attraktiven Formen wahrnimmt. Sonst kommt es ihnen direkt so vor, als würden die Männer gierig starren und ihnen alles „weggucken“. Es dauert lange, bis die Frau merkt, dass längst nicht alle Männer so sind, wie der Mann, mit dem sie den Missbrauch erlebt hat. Es dauert lange, bis sie sich schick kleiden kann und das Gefühl hat, dass sie dennoch ihren Körper für sich behalten darf. Und dass es nicht bedeutet, jemanden zu verführen, nur, weil man sich schick anzieht.

Neuen Spielraum gewinnen

Eine Psychoanalyse kann dabei helfen, neuen Spielraum zu gewinnen. Die eigenen sexuellen Wünsche und Regungen werden bewusster wahrgenommen und müssen nicht länger abgewehrt werden. Je mehr die Frau die eigenen Regungen wieder wahrnehmen kann, desto weniger hat sie das Gefühl, die anderen hätten überstarke sexuelle Wünsche.

Über die Zeit kann es in der Psychoanalyse gelingen, die eigenen Gefühle kennenzulernen und zu steuern. Man erfährt, dass man mit den eigenen Erregungen in sicheren Grenzen umgehen kann, ohne das Gefühl zu haben, das Gegenüber könnte „alles merken“. Alltagsdinge können so neutralisiert und von der Sexualität wieder getrennt werden, weil man die Erregung wieder bei sich selbst verspürt und verorten kann.

An wen sich wenden?

Viele sexuell missbrauchte Frauen fühlen sich einsam. Bei anderen Problemen, z.B. bei einer Angststörung, lässt sich im Internet leicht ein Forum finden, das zum Austausch einlädt. Das Symptom verbindet. Bei sexuell Missbrauchten hingegen erscheint das weitaus schwieriger: Das Thema ist besonders peinlich und individuell. Viele fragen sich, ob das, was sie erlebt haben, überhaupt als „Missbrauch“ zu bezeichnen ist. Die Symptome, die sich zeigen, sind völlig unterschiedlich: Manche Betroffene leben mit der Diagnose „Borderline-Persönlichkeitsstörung“, andere mit den Diagnosen „Posttraumatische Belastungsstörung“, „Narzisstische Persönlichkeitsstörung“, „Hypochondrie“ oder „Depression“. Diese und andere Diagnosen können Etiketten sein, die auf das Geschehene hinweisen.

Andererseits scheinen positive Aspekte, wie z.B. beruflicher Erfolg, nicht zu dieser traurigen Vergangenheit zu passen. Nicht zuletzt fehlen den Betroffenen oft selbst die Worte. So ist es für sie unglaublich schwer, andere Menschen zu finden, denen es ähnlich ergangen ist und mit denen sie sich verbunden fühlen können. Sexueller Missbrauch hat viele Gesichter. Er kommt in den verschiedensten Formen und den verschiedensten Schichten vor. Die Suche nach einer geeigneten Psychotherapie ist oft der erste Schritt heraus aus der Isolation.

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Links:

Missbrauch durch Frauen
Beitrag auf der Website von Kinder brauchen beide Eltern e. V.

Psyndex 2010:
Empirische Studien zur sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche (PDF)

Akademie für Psychoanalyse und Psychosomatik Düsseldorf e.V.:
Mathias Hirsch:
Therapeutische Erfahrungen mit Opfern inzestuöser Gewalt
Jahrbuch Psychoanal. 31, 132 – 148 (1993h)
und
Mathias Hirsch:
Latenter Inzest
Psychosozial 16, 25-40

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 7.1.2009
Aktualisiert am 13.3.2016


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