Evidenzbasierte (= beweisgestützte) Medizin ist eine Orientierungshilfe für Ärzte und Patienten. Der Begriff wurde Anfang der 90er Jahre von dem Epidemiologen Gordon Guyatt und dem Mediziner David Sackett, beide Kanadier, geprägt. „Evidence“ heißt „Anhaltspunkt, Beweis“, „evidenzbasierte Medizin“ ist also die „erwiesenermaßen wirksame Medizin“. Wie wirksam eine Therapie ist, lässt sich an ihrem Evidenzgrad abmessen – aber nicht nur … (Text & Bild: © Dunja Voos)
Noten für die Wirksamkeit einer Therapie
So wird die Wirksamkeit einer Therapie nach Kriterien der Evidence-based-medicine (EBM) beispielsweise eingeteilt:
Grad I: Die Wirksamkeit ist gut belegt.
Grad II: Die Behandlung ist wahrscheinlich wirksam.
Grad III: Die Behandlung ist nach Expertenmeinung wirksam.
Daraus ergeben sich sogenannte Empfehlungsklassen:
A: Die Wirksamkeit der Behandlung ist gut belegt und daher zu empfehlen.
B: Die Wirksamkeit ist ausreichend belegt und daher zu empfehlen.
C: Die Wirksamkeit ist nur ungenügend belegt und daher nur wenig zu empfehlen.
(siehe auch: G. Ollenschläger et al.: Leitlinien und Evidence-based Medicine in Deutschland, 1998, PDF)
Psychotherapie – was ist wirksam?
Gerade im Bereich der Psychotherapie geht es immer wieder um die Frage: Ist eine Behandlung wirksam? Ist die Wirksamkeit der Therapie belegt? Dazu muss man wissen, dass hohe Evidenzgrade nur verteilt werden, wenn eine Therapieform mithilfe einer klinischen Studie (Link zu Wikipedia) untersucht wurde. Das sieht vereinfacht so aus, dass Patienten nur unter bestimmten Voraussetzungen an der Studie teilnehmen dürfen. Manchmal werden die Patienten „zufällig“ einer bestimmten Therapiegruppe zugeordnet (randomisierte kontrollierte Studie, RCT). Sie bekommen dann eine bestimmte Therapie und werden mit einer Kontrollgruppe verglichen, also mit Menschen, welche die untersuchte Therapie nicht erhalten. Am Schluss der Studie schaut man sich das Outcome, zu deutsch „Ergebnis“, an: Es wird geprüft, ob es den behandelten Patienten entschieden besser geht als den unbehandelten und ob es ihnen nach der Therapie besser geht als vorher.
Die Wirksamkeit der Behandlung wird eingestuft
Auch psychotherapeutische Behandlungen werden gelegentlich nach folgenden Evidenzgraden „benotet“. Das sieht dann in etwa so aus:
Ia: Es gibt mehrere randomisierte, kontrollierte Studien, die die Wirksamkeit der Therapie belegen. Dies wurde in Metaanalysen festgehalten.
Ib: Es gibt mindestens eine randomisierte, kontrollierte Studie.
IIa: Es gibt mindestens eine kontrollierte Studie (ohne Randomisierung).
IIb: Es gibt mindestens eine quasi-experimentelle Studie.
III: Es gibt nicht-experimentelle, beschreibende (= deskriptive) Studien, z. B. Vergleichsstudien.
IV: Es gibt anerkannte Autoriäten auf dem Gebiet der Psychotherapie, welche die Therapie aufgrund von klinischer Erfahrung als wirksam erachten.
(Siehe auch: EBM-Netzwerk)
Psychotherapie ist kein Medikament
Wer eine körperliche Erkrankung hat und für sich die beste Therapie sucht, für den kann der Evidenzgrad eine wertvolle Orientierung sein. Bei der Psychotherapie ist das nicht so leicht, denn die Wirkung ist vielfältig. Ein Blutdruckmedikament kann leicht daraufhin überprüft werden, ob es den Blutdruck senkt oder nicht. Bei der Psyche ist das anders. Es lässt sich zwar mit Fragebögen erfassen, ob beispielsweise „Angst“ im Laufe einer Therapie zurückgeht. Doch was noch passiert, kann nicht so leicht erfasst werden. Ist stattdessen „Zwang“ entstanden? Oder ist die Angst zunächst geblieben, dafür an anderer Stelle mehr „Glück“ hinzugekommen?
Klinische und empirische Studien
In der Medizin „In“ ist gerade das, was einen guten Evidenzgrad erhält. Zur Verhaltenstherapie gibt es viele klinische Studien, in denen diese Therapieform gut abschneidet – zum Beispiel Studien zur Verhaltenstherapie bei Angststörungen.
Zur analytischen Therapie hingegen gibt es nicht so viele Studien, die eine Notenvergabe nach Evidenzkriterien erlauben. Hier gibt es sogenannte „empirische Studien“, bei denen die Daten von Patienten gesammelt und ausgewertet werden. Es lässt sich also der Zustand der Patienten vor einer Therapie mit demjenigen nach der Therapie vergleichen. Doch weil es oft keine Kontrollgruppe gibt, lassen sich Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht so sicher ableiten wie aus kontrollierten klinischen Studien. Aber warum führen Psychoanalytiker weniger „kontrollierte klinische Studien“ durch als ihre verhaltenstherapeutischen Kollegen?
Schon bei der Diagnosestellung gehen analytische Therapeuten anders vor als Verhaltenstherapeuten. Statt der „Angststörung“ sehen die Analytiker die Angst im Zusammenhang mit vielen anderen möglichen Problemen, z.B. mit nicht genügend ausgereiften Persönlichkeitsanteilen. Zudem sind analytische Therapien oft lang und ohne vorformuliertes Ziel. Es zeigt sich eher im Laufe der Behandlung, wohin die Reise geht. Einer „Kontrollgruppe“ bewusst diese intensive Therapieform zu „verweigern“, nur um zu schauen, was aus diesen Patienten wird, wäre ethisch nicht vertretbar.
Niedriger Evidenzgrad – und dennoch gut wirksam
Wie schwierig es ist, einfach zu sagen, eine Therapie hat Evidenzgrad I und ist damit einer Therapie mit niedrigem Evidenzgrad vorzuziehen, zeigt dieses Beispiel: Eine Patientin soll vor einer Verhaltenstherapie in einem Fragebogen ausfüllen, ob sie ihr Temperament kontrollieren kann. Sie antwortet mit „Nein“. Dann macht sie eine Verhaltenstherapie und antwortet am Ende der Therapie auf dieselbe Frage mit „Ja“. Die Therapie hatte also Erfolg, wenn man Fragen wie diese als Messpunkte nimmt.
Doch solche Fragen sind im Leben nicht alles. Wer eine analytische Therapie macht, der wird vielleicht die gestellten Fragen ebenso beantworten. Doch wenn man beispielsweise eine Patientin fragt, was ihr die analytische Therapie hauptsächlich gebracht hat, antwortet sie vielleicht: „Ich kann die Beziehung zu meinem Partner mehr genießen.“ Solche Punkte im Leben, an denen Zufriedenheit entstanden ist, können nicht unbedingt in Worte gefasst oder leicht abgefragt werden. Vielleicht sind äußere Symptome zunächst noch geblieben: Angst in der Straßenbahn, Kopfschmerzattacken oder ähnliches. Aber der neue Lebensweg hat eine große Bedeutung für die Patienten.
Beweise sind nicht alles
Eine Therapie kann auf verschiedene Weise auf ihre Wirksamkeit untersucht werden. Der Evidenzgrad sollte nicht das alleinige Kriterium sein, nach dem man eine Psychotherapie auswählt. Die Evidence-based Medicine ist ohne Frage wertvoll, doch manchmal wird sie zu sehr hochgejubelt – statt „based“ könnte man da auch „spaced“ verstehen …
Quelle: Bernd Herrmann et al. Medizinische Diagnostik bei sexuellem Kindesmissbrauch. Konzepte, aktuelle Datenlage und Evidenz.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 111 | Heft 41 | 10. Oktober 2014
http://www.aerzteblatt.de/pdf/111/41/m692.pdf
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Psychotherapie-Evaluation – ein Modell
Indikationsspezifische (störungsspezifische) Psychotherapie
Evidenzbasiert trösten
Links:
Gunver Sophia Kienle (2008):
Evidenzbasierte Medizin und ärztliche Therapiefreiheit. Vom Durchschnitt zum Individuum.
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 105, Heft 25, 20. Juni 2008
Jonathan Shedler:
Where is the Evidence for Evidence Based Therapies?
http://integral-options.blogspot.de/2013/01/jonathan-shedler-phd-where-is-evidence.html
Deutsches Cochrane-Zentrum (DCZ)
www.evidence.de, Informationen der Universität Witten Herdecke
www.ebm-netzwerk.de
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
Jürgen Windeler et al. (2008):
Randomisierte kontrollierte Studien
Kritische Evaluation ist ein Wesensmerkmal ärztlichen Handelns
Deutsches Ärzteblatt, 14. März 2008
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 7.3.2008
Aktualisiert am 18.6.2015