Einsame Menschen würden Sonn- und Feiertage am liebsten abschaffen. Schlaflose Nächte können die Einsamkeit verstärken. Viele Menschen sind davon betroffen. Doch es erfordert Mut, darüber zu sprechen. Meistens schämen sich die Einsamen ihrer Einsamkeit. Eine stille Wut auf andere mit Partner und Familie und ein schmerzvoller Neid auf alle, die nicht einsam sind, macht sich breit. Dabei sind nicht nur ältere und kranke Menschen oder „komische Kauze“ betroffen – auch Singles in den besten Jahren, beruflich erfolgreiche und attraktive Frauen und Männer sind einsam und halten die quälende Stille kaum aus. Geplatzte Träume oder Kinderlosigkeit wider Willen lässt den Schmerz an manchen (Feier-)Tagen sehr groß werden. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Es gibt viele Gründe für die Einsamkeit
Jeder Einsame ist aus anderen Gründen einsam – und doch ähneln sich die Gründe: Den meisten fehlt es an guten Bindungen zu nahestehenden Menschen. Eine einzige gute Bindung kann ausreichen, um das Einsamkeitsgefühl zu vertreiben. Wenn wir das Gefühl haben, wir sind gut an den anderen gebunden und der andere denkt an uns, dann haben wir fast das Gefühl, er sei da. Er ist verfügbar. Dann ist es egal, ob wir mit ihm in einem Raum oder Tausende von Kilometern voneinander entfernt sind: entscheidend ist das Gefühl, dass der andere emotional für uns erreichbar ist. Ein Anruf würde genügen, und die Nähe wäre wiederhergestellt.
Ob schüchtern oder gesellig – Verlassenheitsgefühle kennt wohl jeder
Seelische oder körperliche Erkrankungen können genauso zur Einsamkeit führen wie plötzliche Schicksalsschläge. Viele einsame Menschen waren schon von Kindes Beinen an einsam: Es mangelte ihnen an einfühlsamen Eltern, an Geschwistern oder liebevollen Großeltern. Sie haben vielleicht Gewalt erfahren oder fanden in der depressiven Mutter oder dem abwesenden Vater keinen Halt. Auf diese Weise verunsichert, fiel es vielen schon in der Kindheit schwer, Kontakte zu knüpfen und zu halten. (Davon betroffen sind übrigens häufig auch die „Kriegsenkel“.)
Seelische Erkrankungen und Einsamkeit geben sich die Hand
Wenn einsame Kinder das Haus verlassen, um zu studieren oder eine Ausbildung zu beginnen, führt sich diese Einsamkeit oft fort. Von der eigenen Familie nicht gehalten, fehlt es diesen jungen Menschen oft an Mut, die Welt zu erkunden und vertrauensvoll auf andere zuzugehen. Menschen mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung hängen sich oft an andere, weil sie in der Tat wenig andere Menschen haben und hatten, zu denen sie eine tiefere, vertrauensvolle Beziehung eingehen konnten. Doch je mehr sie sich an andere hängen, umso einsamer fühlen sie sich. Sie fühlen sich leer, während die anderen so erfüllt erscheinen.
Man kann nur schwer von sich selbst aus selbstbewusster werden
„Es ist egal, was andere sagen! Du musst dein Selbstwertgefühl aus dir selbst heraus gewinnen!“ Dieser Satz ist zwar in Mode, aber nicht brauchbar. Denn wir brauchen andere Menschen, die uns annehmen. Kinder sind fröhlich, wenn die Eltern sie liebend und bestätigend anschauen. Auch der Tag des Erwachsenen ist unbestritten schöner, wenn die wichtigste Bezugsperson ihn mit Liebe anblickt und wertschätzt. Im einsamen Kämmerlein ist es schwer, sich selbst wertzuschätzen und zu lieben, wenn man zuvor nicht die Erfahrung gemacht hat, von anderen wertgeschätzt und geliebt zu werden.
Der Psychotherapeut als reale Person verändert vieles
Das verlassene Kind versucht als Erwachsener, das Verpasste nachzuholen. Hier kann oft eine Psychoanalyse helfen. In der Beziehung zu einem verlässlichen Psychoanalytiker kann man endlich erfahren, wie es ist, sich gehalten und geborgen zu fühlen. Gleichzeitig kann man erfahren, dass eine gute Beziehung nicht gleichzeitig erdrückt. Denn die Angst vor engen Beziehungen ist ein sehr häufiger Grund für die Einsamkeit.
Die neue Erfahrung in der Psychoanalyse ermöglicht es, sich nicht mehr so verlassen zu fühlen, wenn man alleine ist. Oft findet man während einer Psychoanalyse die Kraft und den Mut, neue Kontakte und Freundschaften zu schließen. Alte, schwächende, komplizierte Freundschaften können vernachlässigt und neue, kräftigende Beziehungen aufgebaut werden. Das braucht natürlich Zeit – sehr viel sogar. Unter Umständen viele Jahre.
Geld und Natur können bei Einsamkeit helfen
Mit Geld kann man keine Freunde kaufen, heißt es. Doch eine entspannte finanzielle Situation erlaubt es eben doch eher, Einladungen anzunehmen oder Feste zu feiern, Weihnachtspost zu verschicken, eine Internet-Flatrate einzurichten, sich zu Hause eine gemütliche Umgebung zu schaffen oder eben eine Psychoanalyse zu machen, wenn die Kassen „Nein“ sagen. Auch Erlebnisse in der Natur können die Einsamkeitsgefühle mindern. Vielen einsamen Menschen steht aber weder Geld noch Natur zur Verfügung: Sie leben in Betonklötzen und können sich nur das Nötigste leisten. Wenn sie Glück haben, treffen sie auf gute Menschen, die es ihnen ermöglichen, neue Hoffnung zu schöpfen.
Die innere und äußere Verbindung
Einsam fühlt man sich oft, wenn man das Gefühl hat, die Verbindung zu sich selbst verloren zu haben. Wir alle sind Beziehungswesen. Wir wollen zu anderen dazugehören, wir wollen aber auch sozusagen die „Einzelteile in uns selbst“ verbunden wissen. Wir leben mit „inneren Objekten“ und „Repräsentanzen“, also der Vorstellung von anderen Menschen. Wer mit einer Schwester aufgewachsen ist und sich gut mit ihr verstanden hat, der trägt die Schwester auch im Herzen, wenn sie nicht physisch anwesend ist. Diese „innere Schwester“, das „gute Objekt“, ist irgendwie da und hilft gegen die Einsamkeit. Gibt es in uns überwiegend „gute innere Objekte“ fühlen wir uns weniger einsam, als wenn in uns die kritischen, strafenden, verbietenden, einschränkenden, beschämenden und trennenden Stimmen überwiegen.
Schnelle Lösungen gibt es nicht
Menschen, die einsam sind, wissen es: So schnell lässt sich die einsame Situation oft nicht verändern. Gute Freundschaften bilden sich über Jahre aus. Es dauert lange, neue Beziehungen zu knüpfen, Selbstwertgefühl aufzubauen, die Ausbildung zu beenden, den Partner für’s Leben zu treffen oder auch einfach sich selbst zu finden. Wem es gelingt, gut zu sich selbst zu sein, der fühlt sich oft weniger einsam. Sich selbst liebevoll zu behandeln, sich Beziehung zu gönnen und zu sich selbst zu stehen, sind oft erste Schritte aus der Einsamkeit. Vielen hilft auch ein Haustier – ein tierischer Begleiter ist von unschätzbarem Wert. Auch das Internet kann in Maßen über einsame Zeiten hinweghelfen: War es lange verpönt, Samstag-abends zu Hause zu sein, so zeigt sich in Netzwerken wie Twitter und Co., dass es viele Menschen gibt, die am Wochenende alleine sind.
Bewusst Kontakte knüpfen
Der persönliche Brief schafft mehr Kontakt als die E-Mail. Telefonieren ist besser als Mailen. Am wertvollsten sind regelmäßige persönliche Kontakte. Wer den Frust akzeptieren kann, den jeder Abschied mit sich bringt, hat schon viel erreicht. Auch in Gruppen gibt es viel Frust und häufig Einsamkeitsgefühle. Jedes Orchester, jeder Sportverein, jede Lesegruppe und jede Gemeinde besteht aus Menschen mit Fehlern. Wer sich selbst eigene Fehler besser eingestehen kann, der ist auch weniger streng mit anderen. Enttäuschungen gehören immer zum geselligen Leben dazu – doch der dauerhafte Rückzug bringt oft mehr Schmerz mit sich als das Überwinden der Enttäuschungen mit einem Neu-Anfang.
Über die Einsamkeit sprechen
Wenn Sie sich einsam fühlen, sind Sie „in bester Gesellschaft“. So schreibt es die Autorin Katharina Zimmer in ihrem Buch „Die Kunst, allein zu leben“. Bücher über die Einsamkeit können helfen, zu erkennen, dass man längst nicht alleine dasteht. Auch das Buch von Helga Levend, „Einsamkeit – Die Stille nach innen“, enthält viele Anregungen für Menschen, die sich einsam fühlen. Im Fernsehen oder im Radio Menschen zuzuhören, die genauso denken wie man selbst, kann das Gefühl von Einsamkeit enorm lindern. So fühlt man sich verbunden und verstanden, selbst wenn man den Menschen, der da spricht, (noch) gar nicht kennt. Wer über seine Einsamkeit spricht, wird möglicherweise feststellen, dass auch andere sich trauen werden, über ihre Einsamkeit zu sprechen.
Einsamkeit in Gesellschaft
Viele Menschen sind einsam, obwohl sie mit einem Partner zusammenleben, obwohl sie sich oft unter Freunden befinden oder obwohl sie aus einer großen Familie stammen. Häufig entsteht die Einsamkeit dadurch, dass niemand ehrlich ist. Man ist nicht ehrlich zu sich selbst und stellt sich nach außen anders dar, als man ist. Wenn der andere ebenso verfährt, kann man Tage zusammen verbringen und sich niemals wirklich treffen. Wie wertvoll sind da doch die Momente, in denen sich jeder zeigt, wie er ist. Natürlich nicht völlig ungeschützt. Es ist schon wichtig, nicht so viel von sich preiszugeben, dass man sich hinterher wie „nackt“ fühlt. Aber manchmal können schon wenige vorsichtige Worte, echtes Interesse und ehrliches Schweigen zu mehr Gemeinsamkeit führen als Worthülsen, mit denen man viel und doch nichts sagt.
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Buchtipps:
Jörg Wiesse:
Identität und Einsamkeit – Zur Psychoanalyse von Narzissmus und Beziehung
Vandenhoeck und Ruprecht
Robert S. Weiss:
Loneliness: The Experience of Emotional and Social Isolation
The MIT Press Classics
Links:
Julianne Holt-Lunstad et al. (2010):
Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review
(Brigham Young University, Utah, USA)
PLoS Med 7(7): e1000316. doi:10.1371/journal.pmed.1000316
Published: July 27, 2010
Soziale Kontakte verlängern das Leben
Tagesspiegel Wissen, 28.7.2010:
Jean-Michel Quinodoz:
Ein psychoanalytischer Zugang zur Einsamkeit
Psychoanalyse für Anwender
http://www.fvabz.ch/doks/Einsamkeit.pdf
Ophir, Orna (2015):
„Loneliness and the Sense of Belonging”
Thoughts about Immigration, Loneliness and Communities of Those Who Do Not Belong
The Candidate, 6/2015
Loneliness and Attachment
Quelle:
Sean S. Seepersad:
Understanding Loneliness Using Attachment And Systems Theories And Developing An Applied Intervention.
PDF: S. 5
http://www.webofloneliness.com/publications.html
Martha Lear:
The Pain of Loneliness
New York Times, 20. Dezember 1987
Robert S. Weiss
„Vater der Einsamkeitsforschung“, University of Massachussetts
John T. Cacioppoy
Einsamkeitsforscher, University of Chicago
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht im Dezember 2012.
Aktualisiert am 4.1.2016