Aggressive Kinder sind nicht einfach so aggressiv – sie haben immer einen Grund dazu. Meistens sind es chronische Frustrationen, die dazu führen, dass ein Kind aggressiv wird. Vernachlässigte und eingeengte Kinder leiden zudem oft an einem schwachen Selbstwertgefühl. In diesen Kindern wachsen Wut und Hass, weil sie zu wenig Liebe und Verständnis erhalten haben. In rassistischen Gruppierungen treffen viele dieser verletzten Kinder zusammen. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Mutter-Kind-Beziehung entscheidend
Mal wieder ist die Mutter schuld, möchte man sagen, denn sie hat Studien zufolge einen großen Einfluss darauf, ob ihr Kind aggressiv wird oder nicht. In seinem Beitrag „Attachment, Aggression and the Prevention of Malignant Prejudice (2012)“ (Bindung, Aggression und die Prävention von malignen Vorurteilen) beschreibt der Psychoanalytiker Henri Parens diese Zusammenhänge ausführlich. Er macht jedoch auch deutlich, dass man der Mutter eben doch nicht so einfach die Schuld geben kann, denn ihre eigenen Verletzungen, ihr eigenes Unwissen über die kindliche Entwicklung oder ihre finanziellen Nöte können dazu führen, dass sie ihrem Kind unwillentlich mehr Frustrationen zumutet, als es aushalten kann.
Henri Parens fragt nach den Ursachen von Vorurteilen und Rassismus
Henri Parens ist ein Überlebender des Holocaust. Ein Leben lang hat er sich dafür interessiert, wie Aggressionen, Vorurteile und Rassismus zustande kommen. Er und seine Mitarbeiter des Early Child Development Program begannen 1970 mit einer Studie, in der sie 16 Mutter-Kind-Paare über 37 Jahre lang intensiv beobachteten. Die Kinder waren zu Beginn der Studie Säuglinge. Die Mütter erhielten ein Training, das sie ihre Kinder besser verstehen ließ. Schon nach 18 Monaten beobachteten die Forscher, dass sich entwicklungsstörende Verhaltensweisen der Mutter signifikant in Richtung „entwicklungsfördernde Verhaltensweisen“ entwickelt hatten.
Gute Mutter-Kind-Bindung schützt vor der Entwicklung von Aggressionen
Die Autoren fanden eine stabile Korrelation zwischen der Qualität der Mutter-Kind-Bindung und der Aggression des Kindes. Die Follow-up-Studien nach 19, 32 und 37 Jahren konnten die Ergebnisse erhärten: Je besser die Mutter-Kind-Bindung, desto weniger aggressiv waren die Kinder auch noch als Erwachsene. Auch andere Autoren konnten diesen Zusammenhang in Studien herausarbeiten – Parens nennt z.B. Aichhorn (1925), Bowlby (1946), Kernberg (1966), Brazelton (1981), Gilligan (1997), Sroufe et al. (2005) sowie Beebe (2005). Henri Parens sieht daher in Eltern-Schulungen eine große Chance, um Aggressionen bei Kindern zu vermindern.
Aggression, Zerstörungswut und Rassismus
Doch nicht jedes aggressive Kind ist auch gleich ernsthaft destruktiv oder rassistisch. Henri Parens erklärt in seinem Beitrag, dass erst der exzessive psychische Schmerz zu feindseliger Destruktivität führt. Es kommen in der Regel mehrere Faktoren zusammen, um gewaltsamen Rassismus entstehen zu lassen: massive Frustration und Traumatisierung in der Kindheit, sogenannte „maligne Vorurteile“, Zerstörungswut, Rachegelüste, autoritäre Erziehung und die Ansammlung aggressiver Kinder und Jugendlicher in einer Rache- und Gewalt-bereiten Gruppe gehören dazu.
Fremdeln und Fremdenphobie (Xenophobie)
Parens vermutet, wie z.B. schon der Psychoanalytiker René Spitz (1887-1974), dass die gesunde Phase des Fremdelns beim Kleinkind sehr anfällig für Störungen ist – hieraus kann unter ungünstigen Bedingungen eine Fremdenphobie (Xenophobie) entstehen. Im Alter von etwa fünf Monaten beginnen die meisten Kinder zu fremdeln, erklärt Parens. Sie entdecken, dass sie zu ihrer Mutter und zu ihrer Familie gehören und dass Fremde etwas sind, wovor man sich fürchten kann.
Wir lieben das Vertraute
In der eigenen Familie, später dann in der eigenen Gemeinde, im eigenen Land, in der eigenen Kultur entsteht das Gefühl des Vertrauten. Das Kind identifiziert sich mit den Eltern und entwickelt im Alter von 5–6 Jahren auch bewusste Vorurteile über Fremde. Sind die Kinder sich selbst und ihrer Bindungen sicher, können sie andere gut vertragen. Trotz mancher Vorurteile haben die meisten Kinder und Erwachsenen nicht den Wunsch, das Fremde zu zerstören, im Gegenteil: Neugier und Interesse am Fremden sowie der Wunsch, die Fremdenangst zu überwinden, sind Zeichen einer eigenen inneren Stabilität.
Aus ungezieltem Hass wird gezielte Destruktivität
In einer Mutter-Kind-Bindung, in der das Kind häufig Beschämung, Strafen und starke Frustrationen erfährt, bemerkt das Kind: Von Mutter und Vater, von denen eigentlich Sicherheit und Schutz zu erwarten wäre, geht Gefahr aus. Das verunsichert ein Kind zutiefst. Es hasst die Eltern, die es gleichzeitig auch liebt und es kann keine innere Sicherheit entwickeln, weil die äußere Sicherheit fehlt.
Das Kind wird übervorsichtig und versucht, andere möglichst schnell zu beurteilen und einzuordnen. Es versucht, eine Identität und innere Sicherheit zu finden, indem es andere abwertet. Es fragt sich: „An wen kann ich mich binden?“ Es fühlt sich verloren und wird später anfällig dafür, sich an eine „starke Gruppe“ zu binden. Aus anfangs ungezieltem destruktiven Hass kann sich zielgerichteter Hass entwickeln. Das Ziel sind dann fremde Gruppen, die der eigenen „starken Gruppe“ gegenüberstehen. Der Hass kann kanalisiert werden, was viele auch als Erleichterung erleben, denn das „fremde Böse“ bietet Orientierung.
Lehrer haben einen großen Einfluss
Erzieher und Lehrer spielten bei diesem Prozess eine sehr große Rolle, so Parens. Kinder identifizieren sich mit ihren Eltern und mit ihren Vorbildern und übernehmen somit auch deren Vorurteile, deren Gewaltbereitschaft, deren Sehnsucht nach Halt und deren versteckte Traumata.
Trotz biologischer Dispositionen glaubt Parens nicht, dass destruktive Aggression angeboren ist. In 50 Jahren Forschungstätigkeit habe er immer wieder beobachten können, wie sehr das aggressive Verhalten der Kindern von seinen Eltern und weiteren Bezugspersonen abhängt. Zur Prävention von Aggression gehörten außerdem Schulungen für Pädagogen, so Parens. Häufig müssten auch sie lernen zu lehren, ohne zu beschämen.
Quelle:
Henri Parens:
Attachment, Aggression, and the Prevention of Malignant Prejudice
Psychoanalytic Inquiry: A Topical Journal for Mental Health Professionals
Volume 32, Issue 2, 2012: 171-185
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Links:
Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV):
Rechtsextremismus und Fremdenhass
Stellungnahme, Juli 2012
Holocaust Survivor Henri Parens:
An America’s Table Interview
Henri Parens:
Compliance versus Obedience: What Kind of People Do We Want our Children to Become?
Arbeitskreis für Intergenerationelle Folgen des Holocaust, EHEM. PAKH E.V.
13. Mai 2011 – Vortrag im Lew-Kopelew-Forum Köln, www.pakh.de/Archiv/Henri_Parens_2011/henri_parens_2011.html
Henry Parens:
The Development of Aggression in Early Childhood
Karnac Books, 1995
Thomas Auchter:
Die Geschichte vom weißen Zebra
Oder: Seelische Ursprünge des Rassismus
Psychoanalyse aktuell, 2010
Jeannette Otto:
Fundamentales Vertrauen.
Der Münchner Psychotherapeut Karl Heinz Brisch hilft Eltern, eine sichere Bindung zu ihren Kleinkindern aufzubauen.
ZEIT-Online, 22.6.2012, www.zeit.de/2012/25/Fruehkindliche-Bindung
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.11.2012
Aktualisiert am 14.6.2015