“Wenn ich jemanden kennenlerne, ist es anfangs noch gut. Doch dann werde ich ausgenutzt. Andere erwarten ständig, dass ich ihnen helfe. Aber ich mach da nicht mit!”, erzählt Caroline verzweifelt. Immer wieder erlebt sie ihre Beziehungen so. Sie empfindet es so. Und das Empfinden ist stark. Auch, wenn andere sagen, dass sie da “falsch” liegt, ist es ihr Empfinden. Ihr Erleben hüllt sie in eine Hülle, die echten Kontakt schwierig macht. Viele empfinden ihr Erleben wie einen Fluch. Lässt sich Erleben bzw. Empfinden ändern und wenn ja, wie in welchem Ausmaß? (Text & Bild: © Dunja Voos)
Kindheitstraumata
Caroline ist Anfang 50. Sie hat eine schwere Kindheit erlebt – eine depressive Mutter, Strafen, Alkoholismus in der Familie, sexuelle Übergriffe, das ganze Programm. Caroline macht eine Psychoanalyse. Lange hatte sie immer wieder die Vorstellung, der Analytiker könnte sie plötzlich angreifen. Sicher, diese Phantasie könnte jeder haben, wenn er auf der Couch liegt und hinter ihm jemand sitzt, den er nicht sieht. Aber Carolines Erleben schien wie eingestempelt zu sein. Sie bemerkte, wie sie den Analytiker immer wieder als unberechenbaren Angreifer erlebte, obwohl er freundlich zugewandt war und sie eigentlich hätte begreifen müssen, dass sie sich bei ihm hätte sicher fühlen können.
Wie lange noch?
“Wie lange muss ich noch hierherkommen, bis ich endlich kapiere, dass Sie mich nicht angreifen?”, fragt Caroline verzweifelt. Aber sie merkt: Mit der Dauer hat das nichts zu tun. Sie könnte noch 10 Jahre “herkommen” – wahrscheinlich würde sie immer noch befürchten, angegriffen zu werden.
Damit sich ihr Erleben verändern kann, ist es wichtig, dass sie sich zusammen mit dem Analytiker die kleinsten Kleinigkeiten anschaut. Sie findet mühselig heraus, dass sie manchmal das Gefühl hat, sie könnte den Analytiker sauer machen. Sie findet heraus, dass der Analytiker nicht verärgert ist, auch, wenn sie ihn so erlebt. Sie stellt fest, dass sie den Analytiker durch ihre innere Brille sieht. Sie denkt, er sei ärgerlich und wütend, obwohl der Analytiker sich selbst gar nicht wütend fühlt.
Differenzieren
Langsam lernt Caroline, sich selbst und den anderen genauer wahrzunehmen. War sie sich vorher todsicher, dass sie die Gefühle des Analytikers richtig aufschnappen und deuten konnte, so lernt sie langsam, dass ihre Wahrnehmung nicht immer richtig ist. Das macht ihr zunächst große Angst – glaubte sie doch von sich selbst, dass sie ein unerschütterliches Gespür für andere Menschen hätte.
Zusammen mit dem Analytiker untersucht sie ihr Erleben und schaut sich die sogenannten “Mikroprozesse” genau an, die dazu führen, dass sie plötzlich die Vorstellung erhält, der andere könnte sie unvermittelt angreifen. Sie versteht langsam, dass dies kein plötzlich einschießender Gedanke ist, sondern dass sie ganz viel denkt und fühlt, bevor sich ihre Angst zeigt.
Neues Erleben
Caroline geht durch eine lange Zeit der Verwirrung und Verzweiflung. Sie weiß nicht, wie es ausgehen wird. Wird sie es je schaffen, sich irgendwann einmal sicher fühlen zu können? Oft dauern diese Zeiten der Unsicherheit und Verzweiflung in einer Psychoanalyse sehr lange an und es ist nicht immer leicht, das auszuhalten.
Doch Caroline erlangt nach einiger Zeit ein so gutes Verständnis für ihre inneren Vorgänge, dass sie sich jetzt “ausreichend entspannt” fühlen kann. Auch, wenn viele Spuren aus der Kindheit oder aus traumatischen Erfahrungen bleiben, so erleben viele Betroffene doch, dass sich durch genaues Verstehen auch ihr Erleben verändern kann und dass die innere, eingefärbte Brille irgendwann klarer wird.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 11.3.2014
Aktualisiert am 3.12.2015