„Abstinenz“ bedeutet in der Psychoanalyse in erster Linie, dass der Analytiker mit dem Patienten keine sexuellen Kontakte knüpft. Von diesem „Extrempunkt“ aus gibt es viele weitere „Abstinenzen“, zum Beispiel dass der Analytiker den Patienten nicht für seine Bedürfnisse ausnutzt. Ist der Patient Inhaber einer Galerie, sollte der Analytiker dies nicht nutzen, um Bilder für seine Praxis günstig zu erhalten. Zur Abstinenz gehört normalerweise auch, dass der Analytiker den Patienten immer siezt, auch nach der Analyse keine Freundschaft mit ihm eingeht und dass er ihn nicht anfasst. (Text & Bild: ©Dunja Voos)
Keine Berührungen
Manche Analytiker berühren ihre Patienten am Kopf oder halten die Hand des Patienten, was ich persönlich abschreckend finde. Hinzu kommt das Problem, dass „Psychoanalytiker“ kein geschützter Berufsbegriff ist. Analytiker mit einer psychoanalytischen Ausbildung nach den Richtlinien der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) und der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) berühren ihre Patienten meines Wissens grundsätzlich nicht.
Auch der Patient soll abstinent sein
Die Forderung, die Beziehung zum Analytiker nicht „zur Befriedigung von Beziehungswünschen zu gebrauchen“ wird auch an den Patienten gestellt (Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Mertens/Waldvogel, Kohlhammer, 3. Auflage, S. 1). In der Analyse soll gesprochen, aber nicht gehandelt werden. Heutzutage bedeutet das zum Beispiel auch, auf Facebook keine Freundschaft zum Analytiker einzugehen. Freud selbst sagte: „Die Kur muss in der Abstinenz geführt werden“ (Freud, 1915). „Der Kranke soll, was sein Verhältnis zum Arzt betrifft, unerfüllte Wünsche reichlich übrigbehalten “ (Freud 1919).
Erweiterter Abstinenz-Begriff
Wie weit der Abstinenz-Begriff ausgeweitet wird, entscheidet jeder Analytiker für sich. Manche Analytiker geben nie ihre Handynummer raus, andere zeigen eine extrem kalte Haltung. Soll der Analytiker dem Patienten zum Geburtstag gratulieren? Darf er sich mit ihm offen über ein geglücktes Ereignis freuen? Darf er Mitleid zeigen? Was soll/darf/möchte er von sich preisgeben? Über diese Themen können Analytiker der verschiedenen Richtungen ausgiebig diskutieren.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 19.7.2015