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ADHS – das umstrittene Syndrom

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Informationen zu ADHS sind oft widersprüchlich. Das liegt unter anderem an den verschiedenen Ansichten von Psychoanalytikern und Verhaltenstherapeuten. Ein Kind, das weint, ist traurig. Der Grund für die Traurigkeit ist nicht zu erfassen, wenn man das Kind nicht fragt oder gut kennt. Ganz ähnlich ist es mit ADHS auch – ein Kind, das unruhig ist, kann viele Gründe dafür haben. Welche Bedeutung ich als Mutter, Vater oder Therapeut diesen Zeichen geben, ist noch einmal eine ganz andere Frage. (Text & Bild: © Dunja Voos)

Verhaltenstherapeutische Sichtweise

Aus verhaltenstherapeutischer Sicht gibt es für die Diagnose „ADHS“ ganz eindeutige Kriterien. Hierzu gehören die Diagnosekriterien nach dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Diseases (DSM IV) und nach der International Classification of Diseases (ICD-10). Kinderärzte und Psychologen, die sich darauf spezialisiert haben, können nach diesen Kriterien recht genau sagen, welches Kind „ADHS“ hat und welches nicht.

Selbsthilfegruppen

Viele Selbsthilfegruppen orientieren sich an einer eher biologischen Sichtweise, nach welcher ADHS zum größten Teil als Stoffwechselstörung anzusehen ist, die sowohl durch Verhaltenstherapie als auch mit Medikamenten behandelt werden kann. Für Eltern und Betroffene, die rasche Hilfe, Ratschläge und Verhaltensregeln suchen, kann dieser Weg hilfreich sein. Dennoch gibt es Betroffene, die hiermit nicht zurecht kommen und nach anderen Antworten für ihre Fragen suchen. Sie können von einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie eher profitieren.

Die „Stoffwechselstörung“

In den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. heißt es:

“ADHS wird als neurobiologisch heterogenes Störungsbild mit Dysfunktionen in Regelkreisen zwischen präfrontalem Kortex, parietookzipitalem Kortex, Basalganglien und Cerebellum auf dem Boden einer Neurotransmitterfunktionsstörung im dopaminergen System gesehen.” (Jahr 2007)

Oftmals glauben ADHS-Betroffene, ein Teil des Gehirns sei geschädigt. Das ist aber nicht so. Die obige Definition besagt, dass es sich um eine “Funktionsstörung” handelt, also nicht explizit um eine Organschädigung. Funktionsstörungen jedoch haben fast immer auch die Chance, wieder zurück zu ihrer normalen Funktion zu finden. (Anders ist dies z.B. beim Diabetes – oft werden ADHS oder Depressionen mit einem Diabetes verglichen. Doch bei einem Diabetes ist tatsächlich das Organ geschädigt – hier gehen Bauchspeicheldrüsenzellen unter, sodass nicht mehr die Chance besteht, dass das Organ Insulin produziert. Das Gehirn des ADHS-Betroffenen ist jedoch grundsätzlich „ok“. Der unausgeglichene Hirnstoffwechsel – wenn man denn davon ausgehen will – kann wieder ins Gleichgewicht finden.)

Psychoanalytische Sichtweise

Viele psychoanalytische Kindertherapeuten sehen in der „Diagnose ADHS“ wenig Sinn, weil sie nichts über lebensgeschichtliche Ursachen der Störung sagt. Die Diagnose „ADHS“ wird allein aufgrund der Symptome gestellt. Doch die Psychoanalytiker fragen nach dem „Warum“. Viele störende Symptome lassen nach, wenn Eltern und Kind lernen, den Sinn der „Verhaltensauffälligkeiten“ zu verstehen.

ADHS ist auch eine Frage der Beziehung. In Experimenten mit Kleinkindern zeigt sich: Wenn die Mutter mit ihrer Mimik und Gestik nicht auf ihr Kind reagiert, wenn sie nicht zurücklächelt, obwohl das Kind sie anlächelt, dann wird das Kind davon ganz unruhig.

Beispiel für Ursachen von Verhaltensweisen

Eine Mutter streitet sich viel mit dem Vater. Tagsüber ist der Vater nicht da. Die Mutter ist mit unausgesprochenen Eheproblemen so sehr beschäftigt, dass sie die Gefühle ihres Kindes nicht aufnehmen kann. Das Kind kommt zu ihr mit seinen Ängsten, Sorgen und Emotionen. Doch sie finden in der Mutter keinen Platz. Sie kann die Emotionen ihres Kindes nicht „containen“, also aufnehmen, wirklich ankommen lassen und verarbeiten. Die Gefühle prallen zurück auf das Kind und es ist allein mit seiner Überforderung.

Das Kind leidet wortwörtlich an einem Defizit an emotionaler Aufmerksamkeit von Mutter und Vater. Die Situation macht das Kind völlig unruhig und verzweifelt. Echte Hilfe bestünde dann beispielsweise darin, die Mutter zu entlasten und ihr einen Platz für ihre Sorgen zu geben, damit sie wieder freier für das Kind wird. Dem Jungen könnte eine psychoanalytische Therapie helfen. So hätte er 2- bis 3-mal pro Woche eine Bezugsperson, bei der seine aufgebrachten Gefühle Platz finden. Sobald ein Therapeut da ist, der das Kind „aushält“, verwandelt sich unkontrollierte Wut im Kind oft in Trauer. In Gegenwart des Therapeuten wird es dem Kind möglich, zu weinen. Meistens ist dann zu beobachten, wie die motorische und innere Unruhe sichtlich nachlassen.

Schwierige Erkenntnisse

Nicht immer sind die Zusammenhänge so offensichtlich wie in diesem Beispiel. Meistens liegen die Gründe für die Unruhe des Kindes tief im Verborgenen und rücken nur langsam, mit viel Vertrauen und Mut an die Oberfläche. Versteckte familiäre Gewalt, Ehekrisen, ein emotional oder real abwesender Vater, eine Depression der Mutter und vieles mehr können sich hinter der Diagnose „ADHS“ verbergen. Da ist es oft leichter zu sagen, ADHS sei eine Stoffwechselstörung.

Der psychoanalytische Weg hingegen ist nur allzu leicht mit Schuldgefühlen verbunden. Die Eltern eines „ADHS-Kindes“, die schon am Ende ihrer Kräfte sind und sich dann auch noch „schuldig“ fühlen müssen, werden zu Recht wütend. Erst, wenn ein einfühlsamer Therapeut Vater und Mutter zeigen kann, dass sie vielleicht zu der Unruhe des Kindes beitragen, aber keinesfalls „schuld“ daran sind, kann der Weg zur Besserung gebahnt werden. Das Gute daran: Es wird nicht länger „der Stoffwechsel“ oder „die Vererbung“ als hauptsächliche Ursache angesehen.

Auch, wenn die Erkenntnisse schmerzhaft sind, so kann dadurch vielleicht ein Weg beschritten werden, der mehr und mehr Handlungsspielraum zulässt. Langsam können die ADHS-Symptome zurückgehen und dem „handfesten Schmerz“ Platz machen, der zur Veränderung führt.

Verschiedene Sichtweisen können sich ergänzen

Aufgrund der völlig unterschiedlichen Sichtweisen von Analytikern und Verhaltenstherapeuten entstehen hier oft öffentliche Diskussionen, die Eltern und Patienten verwirren. Ihnen bleibt nichts anderes, als sich zu informieren und dann zu entscheiden, welchem Weg und welchem Therapeuten sie am meisten vertrauen. Im Alltag sind die Sichtweisen dann doch nicht immer so strikt getrennt: Eine analytische Therapie enthält unter Umständen auch verhaltenstherapeutische Elemente und Verhaltenstherapeuten kümmern sich um die Beziehung zwischen Eltern und Kind, wobei unter Umständen auch unbewusste Aspekte bewusst werden. Die Psychoanalytiker allerdings legen ihren Schwerpunkt auf das Unbewusste.

Frankfurter Präventionsstudie

Dass ADHS kein „Schicksal“ ist, zeigt die Frankfurter Präventionsstudie des Sigmund-Freud-Instituts. In diesem von 2003-2006 gelaufenen Kindergartenprojekt unter Leitung von Professor Marianne Leuzinger-Bohleber gab es deutliche Hinweise darauf, dass sich durch die psychoanalytische Unterstützung von Kindern, Eltern und Erzieherinnen der Störung vorbeugen lässt: Der Prozentsatz der ADHS-Kinder in der Grundschule ging zurück. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass die Gene und der Stoffwechsel nicht alles sind.

Hyperfokussierung

Wenn sogenannte ADHS-Kinder das tun, was sie interessiert, können sie sich sehr lange auf eine Sache konzentrieren. Auch, wenn diese Eigenschaft mit dem Begriff “Hyperfokussierung” schon wieder pathologisiert wird, so ist es doch ein Zeichen dafür, dass sie sich konzentrieren können – unter anderem auch auf ihre Therapiestunde, wenn der Therapeut das Kind einfühlsam begleitet.

Diagnosenummer nach ICD-10: F90.0/F90.1 = ADHS

Verwandte Artikel in diesem Blog:

ADHS – alle Beiträge auf einen Blick

Buchtipps:

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Terje Neraal und Matthias Wildermuth (Hrsg.):
ADHS: Symptome verstehen – Beziehungen verändern.
Psychosozial-Verlag 2008


Marianne Leuzinger-Bohleber, Yvonne Brandl, Gerald Hüther (Hrsg):
ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung.
Vandenhoeck & Ruprecht 2006

Lesetipp:
Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl, Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber:
Hilfe für kleine Störenfriede:
Frühprävention statt Psychopharmaka. (PDF)

Vom kritischen Umgang mit der Diagnose „Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung“.
Forschung Frankfurt 3/2007: 52-55 (PDF)

„Im Gegensatz zu Verhaltenstherapeuten betonen Psychoanalytiker, dass ein Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität als Symptome zu verstehen sind, aber kein einheitliches diagnostisches Bild und schon gar keine Krankheit darstellen.“ (Haubl/Leuzinger-Bohleber)

Links:

Dr. phil. Frank Dammasch (10.1.2007):
„Elvira – immer vorwärts, nie zurück“
ADHS: Krankheit oder Beziehungsstörung?
www.psychoanalyse-aktuell.de

DunjaVoos:
ADHS-Präventionsstudie: Signifikante Abnahme der Hyperaktivität nur bei Mädchen
Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung, 8. November 2012
www.bvpraevention.de/cms/index.asp?inst=bvpg&snr=9116

Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendpsychotherapeuten (VAKJP)
www.adhs-konferenz.de
Frankfurter Präventionsstudie des Sigmund-Freud-Instituts
Zentrales ADHS-Netz, (hauptsächlich biologisch/verhaltenstherapeutisch orientiert)
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Dieser Beitrag wurde veröffenticht am 8.12.2012
Aktualisiert am 10.10.2016


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