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Clik here to view.Manche Menschen haben eine quälende Angst vor der Unendlichkeit. Sie haben Angst, ewig leben zu müssen. Sie stellen sich vor, dass der Tod weder Erlösung noch Ende ist. Den Betroffenen mangelt es an der Vorstellung von Ruhe. Eine Forumsbesucherin schreibt auf kurzefrage.de: „Der Gedanke daran, dass das alles keinen Anfang und kein Ende hat, macht mich einfach fertig.“ Woher kommt diese Angst vor der Unendlichkeit und welche Vorstellungen können helfen? (Text: Dunja Voos; Bild: Julia)<
Ohne Halt, ohne Grenze
Wenn man sich so fühlt, als hätte man selbst keine Grenze, wenn man zu wenig Halt hat, wenn niemand da ist, der einen hält, kann ein unangenehmes Gefühl von Unendlichkeit aufkommen. Wer keine „Be-Ziehung“ hat, der fühlt sich unangenehm losgelöst. Menschen, die in der Kindheit nicht geborgen waren, fehlt häufig die Erfahrung, dass Beziehungen haltgebend sind. Sie haben das unangenehme Gefühl, zu schweben.
Im Alter kann es besser werden
Oft werden junge Menschen von der Angst vor der Unendlichkeit gequält – wenn sie körperlich gesund und voller Energie sind, können sie sich auf eine unangenehme Weise unsterblich fühlen. Es sind insbesondere auch Menschen betroffen, die sich als Kind nie abgrenzen durften und wo es zwischen den Familienmitgliedern keine Grenzen gab. Das heißt, die Eltern dieser Kinder durchbrachen immer wieder die persönlichen Grenzen ihrer Kinder, z.B. durch Drohungen, Gewalt oder Missbrauch. So konnte das Kind nicht die Erfahrung des „Abgegrenztseins“ machen. Auf unangenehme Weise fühlt es sich, als sei es mit allem und jedem grenzenlos verbunden.
Die unsterbliche Seele?
Viele stellen sich vor, dass der Mensch einen sterblichen Körper, aber eine unsterbliche Seele habe. Dadurch kann sich die Angst vor der Unendlichkeit verstärken. Kirchenbesuche, in denen vom ewigen Leben gepredigt wird, können hier zum echten Problem werden. Andere Menschen haben die Vorstellung, dass auch die Seele sterblich ist. Wieder andere stellen sich vor, dass Körper und Psyche eng zusammenhängen, dass es aber einen davon unabhängigen Geist gibt, der uns atmen und leben lässt.
Der Mathematikprofessor Marcus du Sautoy aus Oxford hat hierzu eine wunderbare BBC-Dokumentation gedreht mit der Frage: „Bin ich ich?“ (BBC: Just what does make me ‚me‘?).
Die Angst vor der Unendlichkeit hängt zusammen mit der Frage „Wer bin ich“?
Manches verliert seinen Schrecken, wenn es uns bewusst wird, anderes wird erst dann zum Schrecken, gerade wenn wir es bewusst wahrnehmen. Das Erschreckende müssen wir erst mal verdauen. Die Unendlichkeit macht vielen Menschen dann Angst, wenn sie wach sind und darüber grübeln, aber eher selten, wenn sie schlafen. Im Schlaf ist das wache Bewusstsein ausgeschaltet. Die Angst vergeht. Also könnte man auch sagen: Das Bewusstsein ist das Problem. Das Grübeln über die Unendlichkeit ist das Problem. Das Bewusstsein ist aber auch unsere natürliche Grenze. Natürlich führen sich Zahlen bis ins Unendliche fort und man könnte theoretisch bis ins Unendliche zählen, aber die Grenze ist doch deutlich: Das Zählen ermüdet uns und dadurch kommen wir eben nur so weit, wie wir kommen. Wir hören einfach irgendwann mit dem Zählen auf.
Aber Nahtoderfahrungen beweisen doch die Unendlichkeit, oder nicht?
Menschen mit Nahtoderfahrungen schwärmen oft davon, wie wunderbar sie sich gefühlt haben, als sie klinisch tot waren. Aber es gibt auch Menschen mit Nahtoderfahrungen, die sich wie in einem Horrorfilm gefühlt haben – von ihnen hört man seltener. Wohl die meisten Betroffenen haben während notfallmedizinischer Behandlungen Nahtoderfahrungen gemacht. Ich möchte die Erfahrungen der Betroffenen nicht schmälern, aber ich möchte hier auch beruhigende Argumente finden für diejenigen, für die die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod nur schrecklich ist. Die Medikamente, die ein Patient während einer Wiederbelebung bekommt, können im Gehirn viele Empfindungen hervorrufen. Wer einmal das Narkosemedikament Propofol bekommen hat, weiß, wie gut man sich fühlen kann. Der Sterbeforscher Gian Domenico Borasio schreibt in seinem Buch „Über das Sterben“, dass er bei seinen Beobachtungen von Sterbenden keine Hinweise auf Nahtoderfahrungen finden konnte.
Die Grenze spüren, sich wieder sterblich fühlen
Manche alte Menschen sagen, dass sie in jungen Jahren den Tod (und das mögliche Leben danach) sehr viel mehr fürchteten als im Alter. Möglicherweise fühlt man sich im Alter gebrechlicher und man spürt die Grenze deutlicher. Vielleicht hat man auch genügend haltgebende Beziehungen erlebt und man kann leichter loslassen. Die Angst vor der Unendlichkeit kann nämlich paradoxerweise einen großen, aber vielleicht unterdrückten Lebenshunger widerspiegeln. Viele alte Menschen glauben nicht an ein Leben nach dem Tod oder an ein unendliches Leben. Wer Angst vor der Unendlichkeit hat, dem geht es möglicherweise besser, sobald er sich wieder sterblich fühlt und einen festen Boden unter sich spürt. Sobald er in Kontakt ist zu seinen wahren Gefühlen und sobald er versteht, dass dieser Grundschmerz, den er vielleicht spürt, nicht ewig weitergeht, sondern irgendwann endet, geht es ihm besser.
Das Unendliche in uns
Wer Angst vor der Unendlichkeit hat, dem helfen vielleicht die Vorstellungen des Psychoanalytikers Wilfred Bion (1897-1979). Er beschäftigte sich mit dem Unendlichen in uns selbst. Vereinfacht gesagt stellt das Unbewusste das Unendliche dar und das Bewusste das Endliche. Bion beschrieb es ungefähr so, dass in uns selbst unendlich viele unbewusste Eindrücke sind, sozusagen Vorläufer von Gefühlen (Beta-Elemente). In uns spüren wir sozusagen etwas Göttliches, eine große Tiefe, etwas Unfassbares. Bion führte in diesem Zusammenhang den Gedanken von „O“ ein, womit er unter anderem „Wahrheit“ meinte.
Die Beta-Elemente der Psyche können zu reifen, handhabbaren Alpha-Elementen werden, wodurch das, was vorher „unendlich“ war, endlich wird. Aus einer spürbaren „unpersönlichen Wahrheit“ wird sozusagen eine „persönliche“ emotionale Wahrheit. Diese Umwandlung von Beta- in Alpha-Elemente geschieht am Anfang des Lebens insbesondere durch die Mutter – solange, bis wir es selbst können und selbst eine sichere „Alpha-Funktion“ entwickelt haben. Vielleicht haben Menschen mit einer großen Angst vor der Unendlichkeit zu wenig von dieser mütterlichen „Alpha-Funktion“ erlebt und können in der Folge auch bei sich selbst Beta-Elemente schlechter in Alpha-Elemente umwandeln.
James Grotstein: Bion’s Transformation in „O“ and the Concept of the Transcendent Position:
„Beginning with Winnicott’s (1954) concept of „chaos“ and Bion’s (1965) concept of „O,“ as well as Matte-Blanco’s (1975, 1988) concept of infinite sets, we begin to see a post-modern revision of the picture of the fundamental nature of the Unconscious. The „deep and formless infinite“ is its nature. It is dimensionless, infinite, and chaotic, or, in Matte-Blanco’s terms, symmetrical and infinitized.
(Frei übersetzt:) „Wenn wir an Winnicott’s (1954) Chaos-Konzept, an Bion’s (1965) Konzept von „O“ und an Matte-Blanco’s (1975, 1988) Konzept der unendlichen Sets/Mengen denken, merken wir, wie wir damit beginnen, die grundlegende Natur des Unbewussten neu zu verstehen. Das „tiefe und formlose Unendliche“ ist seine Natur. Das Unbewusste ist das Dimensionslose, das Unendliche und Chaotische, oder, mit Matte-Blanco’s Worten, das Symmetrische und „ver-Unendlichte“.
In other words, Bion’s picture of the Unconscious, along with that of Winnicott and Matte-Blanco, conveys an ineffable, inscrutable, and utterly indefinable inchoate formlessness that is both infinite and chaotic–or complex–by nature. It is what it is and is always changing while paradoxically remaining the same.“ (http://www.sicap.it/merciai/bion/papers/grots.htm)
„Anders gesagt: Bion’s Bild vom Unbewussten, zusammen mit den Vorstellungen von Winnicott und Matte-Blanco, zeichnet das Bild einer nicht greifbaren und undefinierbaren Formlosigkeit, die von Natur aus beides ist: unendlich und chaotisch bzw. komplex. Das Unbewusste ist, was es ist und es verändert sich ständig, während es paradoxerweise immer das Selbe bleibt.“
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 2.1.2014
Aktualisiert am 25.9.2016