Die Psychoanalyse ist eine intuitive und subjektive Wissenschaft, die nach der Wahrheit sucht. Jeder hat seine eigene subjektive Wahrheit, die er immer wieder spürt. Zwar versucht man vieles abzuwehren, aber oft weiß man im Grunde, wie es tief in einem aussieht. Diese „Wahrheit“, die sich immer wieder spüren lässt, die immer wieder auftaucht, nannte der britische Psychoanalytiker Wilfred Bion (1897-1979) das „O“ (Ultimate Truth, Absolute Reality). Mit „Wahrheit“ meinen sowohl Bion als auch sein Schüler James Grostein (1925-2015) die „emotionale Wahrheit“ (Grotstein: A Beam of Intense Darkness, Karnac 2007, S. 96: „By ‚truth‘, both Bion and I mean ‚emotional truth‘.“) In jeder Analyse-Stunde suchen Analytiker und Analysand nach der versteckten emotionalen Wahrheit des Analysanden. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Viele Beschreibungen
„O“ ist wortlos – wohl daher gibt es auch viele Beschreibungen davon, wie man sich diese „absolute Wahrheit“, „O“, vorstellen könnte.
„O“ ist das tiefe und formlose Unendliche (deep and formless infinite) in uns
Bions Konzept von „O“ ist aus seinen früheren Ideen entstanden. „O“ kann nur gefunden werden durch Verbannung von „Memory, Desire, and Understanding“ (Erinnerung, Wunsch und Verstehen). Es ist ein bisschen so, wie das Unbewusste in unseren Träumen auftaucht, die eben nur dann möglich sind, wenn wir völlig abschalten und die Kontrolle abgeben.
Zu den mit „O“ verbundenen Ideen Bions gehören unter anderem (1):
– die namenlose Bedrohung („nameless dread“) (Diese namenlose Bedrohung wird wahrscheinlich besonders häufig von Säuglingen, Kindern, Menschen mit einer Psychose oder Angststörung gespürt.)
– Beta-Elemente = „unreife“, rohe psychische Stücke, Eindrücke, Gefühle, bevor sie so reif sind, dass wir sie „denken“ und in Worten ausdrücken können.
– „Thoughts without a Thinker“ (Gedanken ohne Denker, also in etwa die Gedanken, die in uns umherschweifen, bevor wir sie denken können.)
– das „Ding-an-sich“ (Begriff von Immanuel Kant (1724-1804) englisch: „Thing-in-Themeselves“)
– das „Noumenon“ (altgriechisch „noein“ = denken. Noumenon = das Gedachte, das „Gedanken-Ding“, das, was nicht mit den Sinnen erfasst werden kann. Siehe: www.textlog.de)
– die „absolute Wahrheit“, die absolute Wirklichkeit („Ultimate Reality“)
– „Memoirs of the Future“ = „Erinnerungen an die Zukunft“
– „Plato’s Ideal Form“; Platos „Ideale Form“ („Form“ = eine Art „Idee“, siehe Video unten)
– „Inherent Preconceptions“ = Innewohnende Präkonzeptionen, sozusagen Vorahnungen von der Welt. Beispiel: Ein Baby sucht die Brust, weil es eine Vorahnung hat, dass es sowas wie eine Brust geben muss.
– Ehrfurcht und Achtung („Reverence and Awe“).
Gott-ähnlich
Das übernatürliche, personifizierte „O“ könnte man auch „Gott“ nennen (1). „‚O‘ kann nicht mit den äußeren Sinnen erfasst werden, sondern nur mit dem nach innen gerichteten Sinnesorgan, der Intuition“ (1). Bion nannte die Intuition den „siebten Diener“, „Seventh Servant“ (1).
(Kabbalah ist eine Denkrichtung, die ihre Wurzeln im Judentum hat [Wikipedia].
Hier gibt es den Begriff „Ein Sof“ („Ayn Sof“), womit der Gott gemeint ist, wie er war, bevor er sich offenbart oder etwas geschaffen hat. „Ein Sof“ wird auch übersetzt mit „unendlich“. Das hebräische Wort „Keter“ heißt „Krone“ oder auch „Leuchte“, „das Verborgene“.)
Auf den Spuren von „O“
- „O“ könnte nach der Sprache von Melanie Klein als „die maximale unbewusste Angst“ beschrieben werden (Grotstein S. 83)
- „O“ trianguliert mit Bewusst und Unbewusst. Das heißt: Bewusst und Unbewusst sind nicht nur Gegensätze, sondern sie ergänzen sich und „O“, die absolute Wahrheit, steht in einer Dreiecksbeziehung mit „Bewusst“ und „Unbewusst“.
- „O“ trianguliert auch mit den Positionen „paranoid-schizoid“ und „depressiv“. (Vereinfacht gesagt: die „paranoid-schizoide Postion“ bedeutet, dass man sich in einer Beziehung wie ungetrennt erlebt. Man ist ganz involviert – so, wie das Baby anfangs ganz symbiotisch mit der Mutter verbunden ist. In einer paranoid-schizoiden Position befinden wir uns z.B. dann, wenn wir blind sind vor Wut und den anderen nicht mehr sehen. Wir fühlen uns, als würde uns der andere verfolgen und überwältigen. Auch unsere eigenen Gefühle verfolgen uns. Wir sind im Extremfall so verzweifelt, dass wir mit dem Messer auf den anderen losgehen könnten. Die „depressive Position“ heißt, dass wir Abstand nehmen vom anderen, dass wir den anderen genauer sehen können und dass wir differenzieren können zwischen den eigenen und den Gefühlen des anderen. In der „depressiven Position“ können wir unsere Trennung vom anderen spüren, Mitleid und Schuld empfinden und Angst haben, den anderen zu verlieren.)
- „O is bipolar.“ (Grotstein S. 87) Damit ist gemeint, dass „O“ sozusagen von zwei Seiten kommt: Einerseits gibt es die „Sinnesreize, die durch eine emotionale Erfahrung hervorgerufen werden“ (z.B. Gänsehaut bei schöner Musik), andererseits gibt es die „Präkonzeptionen“, die im nicht unterdrückten Unbewussten schlummern (Präkonzeption = z.B. „da muss es irgendwo eine Brust geben, daher suche ich danach“). (S. 87)
- Für Bion sind nicht die Triebe das, was den Menschen hauptsächlich antreibt, sondern es ist das „bipolare O“ (S. 87).
Bions „O“ und die Kleinianer
Bions Ideen fanden bei den „Post-Kleinianern“ großen Anklang. Allerdings, so Grotstein, umgingen die Post-Kleinianer meistens die Theorien um „O“ – sie sprachen einfach nicht explizit davon, auch wenn „O“ in ihren Fallgeschichten und Analysen greifbar nahe auftauchte. Daher nennt Grotstein Bion einen „Post-post-Kleinianer“. Bion stellte das Konzept von „O“ (Wahrheit, Unsicherheit) noch über den Lebens- und Todestrieb (S. 96).
Verwandte Artikel in diesem Blog:
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Präkonzeptionen nach Bion: Finden, was wir suchten
Quellen:
(1) James S. Grotstein:
Bion’s „Transformation in ‚O‘ and the Concept of the „Transcendent Position“
www.sicap.it/merciai/bion/papers/grots.htm (PDF)
(2) James S. Grotstein:
A Beam of Intense Darkness
Wilfred Bion’s Legacy to Psychoanalysis
Karnac 2007
Interessanter Link:
Bion’s O – An Open Gate between Eastern and Western Psychotherapy
Tel Aviv University, Psychotherapy Program, Bion Forum
© Jonathan Harrison, 2006
www.simplymeditate.org/?p=57
The School of Life: Plato in the kitchen (Plato = Platon, Philosoph, 428-348 vor Christus):
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 28.8.2016