Man spürt es scheinbar genau. „Sagen Sie mir, wie ich es los werden kann! Bitte!“, sagen Patienten. Man will es nicht haben. Es scheint hartnäckig in der Psyche zu sitzen wie ein maligner Tumor. In manchen Lebensphasen erscheint es überstark, in anderen könnte man meinen, es sei weg: Das maligne Introjekt. Manche Psychoanalytiker meinen damit so etwas wie einen „Stempel“, den eine unzureichend gute Bindungsperson (meistens Mutter oder Vater) in die Seele des Kindes gesetzt hat. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Ein innerer Kampf
Wohl jeder kennt sie: die kritische Stimme, die sich meldet, wenn man etwas Schönes vorhat. Da ist ein innerer Angreifer, der sagt: „Du wirst schon sehen, was Du davon hast!“ Manche spüren das vermeintliche „maligne Introjekt“ wie eine innere Mutter oder einen inneren Vater, die oder der in einem drin sitzt und der sich weder verjagen noch bekämpfen lässt. „Integrieren“ solle man das Störende, so heißt es, aber das klingt so wenig befriedigend. Jeder kämpft anders mit seinen inneren Anteilen, die ihn stören oder verfolgen, mit seinen „malignen Introjekten“. Manche finden Bilder dafür. Andere wiederum sagen, dass es sowas wie ein „malignes Introjekt“ gar nicht gibt.
Ein Stück Material?
Man kann ja mal die Phantasie ein wenig spielen lassen: „Fötuszellen in Mutters Hirn“ – so betitelte der Deutschlandfunk (2013) seine Nachricht über die Studie von William Chan und Kollegen (2012), die männliche DNA im Gehirn von Jungs-Müttern fanden. Die Forscher des Fred Hutchinson Cancer Research Center (USA) vermuten, dass während der Schwangerschaft winzige DNA-Teile vom männlichen Fetus in das Blut der Mutter und dann in ihr Gehirn gelangt sind.
Genetisches Material und Zellen werden während der Schwangerschaft zwischen Mutter und Kind ausgetauscht (Lo et al., 2000). Also gelangt mütterliches Material auch in das Kind. Da kann das Bild entstehen, dass das „maligne Introjekt“ tatsächlich irgendwie in einem sei wie die Gene der Mutter, die die Augenfarbe mitbestimmt haben, und dass man diesem Introjekt hilflos ausgeliefert sei.
Wenn man sich aber ein Baby vorstellt, das adoptiert wird, verändert sich vielleicht auch dieses Bild. Dann wird deutlich: Mögliche kritische Stimmen wurden später eingeprägt, nämlich zum Beispiel von den Adoptiveltern. Vielleicht kann man es sich vorstellen wie ein Tonband oder eine CD. Das „Rohmaterial“ war frei, aber dann wurde ständig darauf gesprochen. „Pass auf, Du fällst!“, „Wenn Du meinst …“, „Ich wusste ja schon immer, dass Dir das nicht gut tut.“ Und dann ist es eine Frage, wie voll die CD davon wird oder wie tief die Rillen sind, die dadurch entstehen.
Epigenetik
Auch die Epigenetik könnte bei der Frage des „malignen Introjekts“ vielleicht eine Rolle spielen.
So sind zum Beispiel nach einem Krieg auch die Kinder in der zweiten Generation immer noch besonders ängstlich. Die Kriegstraumata der Großeltern können zum Beispiel zu einer erhöhten Aktivität der Stressachse (HPA-Achse) geführt haben (siehe Yehuda et al., 2014: „Influences of Maternal and Paternal PTSD on Epigenetic Regulation of the Glucocorticoid Receptor Gene in Holocaust Survivor Offspring“). Diese Voreinstellung kann sich dann möglicherweise vererben.
Die Gene werden dann so abgelesen, dass die HPA-Achse aktiver eingestellt ist. Doch auch hier wäre wieder die Frage: Wer „sagt“ den Genen, dass sie so oder so abgelesen werden sollen? Teilen die Eltern das den Genen des Kindes durch ihr ängstliches Verhalten mit? Werden die Gene automatisch so abgelesen? Oder ginge es den Kindern in einer Adoptivfamilie besser? Wahrscheinlich kann man solche Fragen so isoliert gar nicht stellen, denn jeder Mensch ist das Produkt unzähliger Verbindungen und Abhängigkeiten.
Todestrieb und Lebenstrieb
Babys haben Hunger. Und die meisten Babys haben einen unstillbaren Lebensdrang. Doch in jedem Menschen wohnt auch der Drang, zu zerstören – zum Beispiel, wenn er in Not ist. Oder es drängt ihn, zu sterben, wenn das Leiden zu groß wird. Der Lebenstrieb ist meistens stärker als der Todestrieb/Zerstörungstrieb. Aber doch gibt es eben auch den zerstörerischen Trieb in uns – eine Lust, Dinge kaputtzumachen, wie wir sie bei Kindern stark beobachten können: Manche bauen ihre Sandkastentürme auf, um sie danach mit großer Lust zu zerstören.
Bei Erwachsenen zeigt sich diese Lust an der Zerstörung oft in fiesen Witzen oder in der Lust, sich brutale Filme anzuschauen. Auch die Sexualität ist eine Mischung aus Zärtlichkeit und Ansätzen von Gewalt. Wenn ein Unwetter oder Gewitter „große Verwüstung“ angerichtet hat, denken wir manchmal verdeckt: „Och, hätte ruhig noch schlimmer sein können.“
Der Zerstörungstrieb, der in uns ist, kann genährt werden. Wer in die Ecke gedrängt wird, wer viel Hass erfährt, sich nicht gesehen fühlt, der hat einen größeren Zerstörungstrieb als jemand, der in Ruhe gelassen wird, geliebt wird und der satt ist. Auch dieser Zerstörungstrieb kann als etwas Fremdes in einem selbst erlebt werden, das man nicht haben will – eben als „malignes Introjekt“, als käme es von irgendwo anders her.
Eine Lebensaufgabe
Das Ringen um Gut und Böse in uns wird in vielen Lebensphasen immer wieder spürbar, besonders dann, wenn Entscheidungen oder Entwicklungsschritte anstehen. Alle Märchen und Mythen handeln von den Kämpfen zwischen Gut und Böse.
Eine Allergie auf das Gute
Traumatisierte Menschen reagieren manchmal paradox: Auf einen guten Menschen reagieren sie sozusagen „allergisch“, weil ihnen Freundlichkeit, Berührungen und Zärtlichkeit Angst machen. Das „Gute“ scheint für manche Menschen etwas Unerträgliches, fast etwas „Schlechtes“ zu sein. Sie finden es manchmal selbst befremdlich, dass sie das Gute angreifen müssen.
Wieder könnte man eine Verbindung zur körperlichen Abwehr herstellen. Das Modell vom „malignen Introjekt“ hat mit der Immunologie eine Menge gemeinsam. Zum Beispiel sind bei der Hepatitis (Leberentzündung) nicht nur die Viren das Problem, sondern es ist die körpereigene Abwehr, die sozusagen über das Ziel hinausschießt und das eigene Körpergewebe – in guter Absicht unbeabsichtigt – zerstört. Die körpereigene Abwehr ist ja nicht „böse“, da kommt ja nichts Böses von außen und regiert das Immunsystem – höchstens als Reiz in Form des Virus. Doch die Abwehr geht vom eigenen Immunsystem aus.
Wahrnehmen
Wichtig ist es, den inneren Kampf wahrzunehmen, wenn möglich einen Schritt zurückzutreten und ihn anzuschauen. Es ist immer wieder ein Wechsel: Wir stecken im inneren Kampf, können dann jedoch wieder Abstand gewinnen. Großherzig auf sich selbst zu schauen, ist eine hohe Kunst. Ebenso wie das Loslassen. Wer gerade mit einer Keule auf einen anderen losgehen will, der muss viel Kraft aufwenden, um sich zu stoppen und die Keule abzusenken. Es fühlt sich an, als müsse man die Fliehkraft und die Gravitationskraft überwinden. Wenn es gelingt, merkt man: Es ist ein Kraftakt, der sich lohnt.
Wenn man merkt, dass man die Angst vor dem Loslassen überwinden konnte, ist man berührt und beruhigt. In der Schwäche fühlt man sich stärker und ist erleichtert. Vielleicht fühlt man dann, wie ein neue gute Kraft gegenüber dem vermeintlichen malignen Introjekt wächst, sodass das Gute das Schlechte halten kann. Es ist nicht immer leicht, sich selbst mit all seinen Facetten und Schichten zu akzeptieren. Wenn einer kommt und sagt: „Es gibt gar kein malignes Introjekt“, dann ist es, als würde der Röntgenarzt die Bilder hochhalten und sagen: „Da ist gar kein Tumor.“
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 19.8.2015
Aktualisiert am 21.8.2016