Babys und Kleinkinder werden von ihren Gefühlen oft regelrecht übermannt. Jede Mutter kennt die plötzliche schlechte Laune ihres Kindes, die von jetzt auf gleich die vormals gute Stimmung völlig zunichte macht. Ist die Mutter in einer guten Verfassung, dann kann sie seine Gefühle aufnehmen und ihm helfen, damit umzugehen. Das ist eine große innere Arbeit, die viel Kraft und Zeit erfordert. Die Mutter fühlt sich dadurch immer wieder sehr beansprucht. Es ist gut, wenn sie sich diese Aufgabe mit Partner, Oma, Opa und anderen helfenden Menschen teilen kann. Das Engagement lohnt sich in jedem Fall: Bereits mit drei oder vier Jahren dankt das Kind mit Selbstbewusstsein, Lebensfreude und Ausgeglichenheit. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Babys Gefühle sind bei der Mutter gut aufgehoben
Der britische Psychoanalytiker Wilfred Ruprecht Bion (1897–1979) fand für diese haltende Funktion der Mutter ein schönes Bild: die Mutter ist für die Gefühle des Kindes eine Art „Container“. Sie hält und verarbeitet sie und gibt sie ihm in reifer, denkbarer Form zurück. Aus diesem Zusammenspiel lernt das Kind später, seine Gefühle selbst zu verarbeiten.
Hunger, Langeweile, Unlust aber auch Freude nehmen das kleine Kind in vielen Momenten voll und ganz in Beschlag. Als Erwachsene wissen wir, wie sehr wir mit einem schreienden Kind mitleiden oder mit einem lachenden Kind mitlachen können. Die Mutter nimmt die Gefühle des Babys auf und „hält“ sie eine Weile. Sie kann auch die anfängliche Ungewissheit aushalten. Dann interpretiert sie die Signale des Babys und verarbeitet seine Emotionen. Ein unbeschreibliches Gefühl, welches das Baby alleine kaum bewältigen kann, nannte Bion ein „Beta-Element“. Nachdem die Mutter das Gefühl ihres Kindes verarbeitet hat, gibt sie es ihm so verdaut zurück, dass es das Gefühl annehmen kann. Das „gute Gefühl“ ist dann das Alpha-Element.
Vom Gefühl zum Wort – aus gefühlt wird gedacht
Die Mutter, die ihr weinendes Kind sieht, nimmt seine Gefühle wahr, schaut es an und sagt: „Ah, Du bist traurig. Ich werde Dich trösten.“ Solche Szenen wiederholen sich unzählige Male. Irgendwann bewirkt dieser Vorgang, dass das Kind das nur Gefühlte auf einmal denken kann. Die Umwandlung ist ähnlich wie beim Träumen. Wenn wir träumen, dann „sind“ wir ganz Traum. Wenn wir wach sind, dann können wir darüber nachdenken und reden. Wir haben dann eine Umwandlung von „ein Gefühl sein“ zu „ein Gefühl haben“ vollzogen.
Beziehung ist immer auch Containment
Dieses „Container-Contained-Modell“ begleitet uns ein Leben lang. In guten Beziehungen erleben wir manchmal, dass wir nach einem Gespräch etwas in Worte fassen können, was wir vorher nicht konnten. Der andere hat uns dabei geholfen, unsere Gefühle zu sortieren. Das ist besonders bei Psychotherapien der Fall. Wenn Patienten Gefühle oder Erlebnisse nicht in Worte fassen können, dann gestalten sie unbewusst die Psychotherapie-Stunde so, dass sich der Therapeut so fühlt wie der Patient. Das nennt man projektive Identifizierung. Auch kleine Kinder „machen“ das mit ihren Eltern. Sie schreien vor Wut, bis auch die Eltern wütend sind. Dann können sie die Gefühle des Kindes nachempfinden. Doch die Eltern bzw. der Therapeut können diese Gefühle mit Abstand aufnehmen, darüber nachdenken und sie in Worte verpacken. So wird ein Gespräch möglich, denn was vorher nur gefühlt werden konnte, kann nun auch gedacht werden. Das Kind bzw. der Patient ist dann meistens sehr erleichtert.
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Link:
Horst Kämpfer:
Intersubjektivität, Unbewusstes und Symbolisierung (PDF)
Dieser Beitrag erschien erstmals am 5.2.2011
Aktualisiert am 13.8.2016