Manche Menschen stellen ihre Borsten auf, sobald ihnen jemand mit Zärtlichkeit begegnet. Das hat verschiedene Gründe. Bei manchen ist es der „Schmerz des Unterschieds“, den sie spüren, weil sie selbst an einem großen Mangel an Zärtlichkeit leiden. Oft ist es aber auch die Nähe zur Sexualität, die vielen Angst macht. Kinder, die in einem sexualisierten Klima groß wurden, reagieren als Erwachsene manchmal schon mit Abwehr, wenn ein anderer zärtlich mit ihnen spricht. Was für andere Menschen eine sichere Situation ist, kippt für ihr Empfinden schnell in etwas haltlos Sexuelles um. (Text & Bild: Dunja Voos)
Unbestimmtes Leiden
Häufig ist das den Betroffenen zunächst nicht bewusst. Sie leiden nur auf unbestimmte Weise darunter, dass sie Zärtlichkeit oder schon allein berührende Worte nicht zulassen können. Sie schämen sich sofort, sobald Zärtlichkeit auftaucht. Manche reagieren sogar vegetativ – es wird ihnen schlecht oder sie bekommen Angst.
Neue Erfahrungen und neue Bilder mithilfe der Psychoanalyse
In einer Psychoanalyse können viele die Erfahrung machen, dass Zärtlichkeit eine breite Schicht ist. Es gibt so etwas wie eine „sichere Zärtlichkeit“. Es gibt liebevolle und zärtliche Begegnungen und Beziehungen, in denen die Grenze zur Sexualität gewahrt bleibt. Zärtlichkeit kann Erregung erwecken. Manche Menschen können das bemerken, genießen, bei sich bleiben und sich sicher fühlen. Andere flüchten sofort und wehren die Zärtlichkeit ab.

„So spricht Freud von zielgehemmten Trieben als Ursache der Zärtlichkeitsbeziehung, ‚die unzweifelhaft aus Quellen sexueller Bedürftigkeit herrührt und regelmäßig auf deren Befriedigung verzichtet‘ (1933a, S. 103), so dass eine dauernde Objektbesetzung* und eine anhaltende Strebung zustande kommt.“ (Hermann Beland: Die Angst vor Denken und Tun. Psychosozial-Verlag, 2. Auflage 2014: S. 30)
*“Objektbesetzung“ heißt, dass der andere einem viel bedeutet. Der andere ist also mit viel Bedeutung besetzt.
Sichere Zärtlichkeit
Bei der „sicheren Zärtlichkeit“ ist es so wie in einem liebevollen Elternhaus, in dem die Eltern die Grenzen der Kinder wahren. Das sieht sicher überall etwas anders aus, aber häufig doch so: Die Eltern klopfen an, bevor sie das Zimmer des Kindes betreten, sie ziehen sich etwas über, bevor sie aus dem Badezimmer kommen, sie beschämen das Kind (besonders in der Pubertät) nicht und verschonen es mit doppeldeutigen Berührungen, Bemerkungen und obszönen Witzen. Kinder, die von ihren Eltern in ihren Grenzen respektiert werden, können später Zärtlichkeit und berührende Worte genießen, weil es sich weich anfühlt und sie nicht in Bedrängnis bringt.
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Dieser Beitrag erschien erstmals im Februar 2015.
Aktualisiert am 18.4.2016