Über einige Formen des psychischen Schmerzes kann man relativ gut sprechen: über Trauer, Neid, Eifersucht, Zorn, Ärger, Wut. Es sind Gefühle, die man erspüren und benennen kann. Manchmal muss man in einer Psychotherapie erst lernen, die Gefühle wahrzunehmen und darüber zu sprechen. Doch darunter liegt noch eine andere Schmerzschicht, eine andere Art von Schmerzen: Es gibt namenlose Schmerzen, die sich nur schwer als Schmerzen identifizieren lassen. Meistens äußern sie sich durch ein völlig unverständliches Verhalten. Der Betroffene will zerstören, ist „schlecht gelaunt“, attackiert die, die er liebt, findet keinen Sinn mehr im Leben, möchte sterben. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Verständnislos
Wer an namenlosen Schmerzen leidet, erinnert an ein Baby, von dem die Mutter sagt: „Es ist gefüttert, es ist sauber, es ist warm und hat genügend geschlafen – und trotzdem ist es nur quengelig. Ich verstehe es nicht.“ Als Baby hatten wir noch keine Sprache. Wir fühlten „Zustände“. Beispiel: Ein Baby, das die Vojta-Therapie erhält, spürt höchst wahrscheinlich einen namenlosen psychischen Schmerz. Es ist das pure Entsetzen darüber, dass die Welt so sein kann. Es sind Panikgefühle, die entstehen, wenn man eingequetscht wird, um Hilfe schreit und niemand kommt. Ähnlich kann sich ein Baby fühlen, das zu lange allein gelassen wird. Wenn die Mutter nicht erraten konnte, was uns fehlte, fühlen wir uns unendlich einsam.
Dumpfe, bohrende, tiefe psychische Schmerzen
Es können dumpfe Schmerzen sein, die sich auch im Erwachsenenalter immer wieder äußern können. Dabei haben wir nicht wirklich ein Gefühl, sondern einen schmerzvollen Zustand, den wir eigentlich aus Babyzeiten und Kindertagen kennen. In diesem Schmerz kann es helfen, wenn jemand da ist, diesen Schmerz nachfühlen, aushalten und mittragen kann. Man könnte diesen psychischen Schmerz auf körperlicher Ebene vielleicht mit einem dumpfen Zahn- oder Rückenschmerz vergleichen. Es ist ein Schmerz wie er zu Beginn einer Geburt entsteht, wo die Frau noch mit Tönen (Anafonesis), mit langgezogenen „Uuuuhs“ den Schmerz tragen kann. Es ist wie der langsame Schmerz der C-Fasern, der sich einige Augenblicke nach dem Fassen auf die heiße Herdplatte einstellt. Eine langgezogene tiefe Trauer über schicksalhafte Erlebnisse in der Vergangenheit, eine tiefe Einsamkeit, eine „Lücke“ im Leben oder eine schmerzliche Körpererinnerung kann sich vielleicht so anfühlen.
Helle, spitze, unaushaltbare Schmerzen
Daneben gibt es jedoch auch noch die „hellen, spitzen Schmerzen“, die an den hellen Zahnschmerz erinnern, wenn Saures, Kaltes oder Süßes direkt an den Nerven trifft. Da kann man nur noch aufschreien und zum Zahnarzt gehen. Diese Schmerzen erinnern an die Schmerzen am Ende der Geburt, wo die Schhmerzen einen fast zerreißen. Es ist ein Ganzkörperschmerz, der sich schwer aushalten lässt. Der entsprechende psychische Schmerz kann sich ganz ähnlich anfühlen: Wir werden furchtbar unruhig, wir „beißen“ die anderen weg von uns und möchten mit dem Auto kurzerhand am liebsten gegen den nächsten Baum fahren. Spitzer, akuter Hass kann so ein Schmerz sein, aber auch eine fassungslose Hoffnungslosigkeit, eine furchtbare, auf die Zukunft gerichtete Verzweiflung. Die Erkenntnis, dass gerade etwas so ist wie es ist, aber sich vielleicht nicht ändern lässt. Es ist eine stechende Einsamkeit, in der man sich hoffnungslos alleine fühlt. Es ist ein erschrockener Blick auf eine furchtbar fantasierte Zukunft.
Kein anderer kann helfen?
Bei diesem spitzen psychischen Schmerz gibt es die Vorstellung, dass auch ein anderer nicht helfen kann, indem er daneben sitzt und dabei ist. Es ist ein furchtbar aufgewühlter Zustand, bei dem manchmal nichts anderes hilft als Warten, dass er aufhört. Was jedoch helfen kann, ist, auch diesen Schmerz zu identifizieren. Es ist eher so ein „Weglauf-Lass-mich-in-Ruhe-Schmerz“. Körperlich lässt er sich mit dem Schmerz vergleichen, der durch die A-delta-Fasern verursacht wird. Dies sind die schnellen Schmerzfasern, die dafür sorgen, dass wir die heiße Herdplatte schnellstens loslassen. Es ist ein ungeschützter, sehr direkter Schmerz. Manchmal scheint hier nur noch die Flucht zu helfen und das Alleinsein. Aber das Warten lässt sich leichter aushalten, wenn man weiß, dass es eben jetzt dieser Schmerz ist und dass auch dieser Schmerz nachlassen kann. Manchmal helfen Sport oder Schlaf, wenn er sich denn finden lässt. Was aber oft ganz besonders gut hilft, ist die Musik – oft besonders die Musik von Bach.