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Übertragung und Gegenübertragung (Transference and Countertransference)

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Wenn ich krank bin und zum Arzt gehe, dann habe ich Glück, wenn ich an einen weisen, wohlwollenden Arzt gerate. Durch die Krankheit bin ich geschwächt und hoffe nun, dass der Arzt mir hilft. In dieser Situation liegt es nahe, dass ich in dem helfenden Arzt einen “guten Vater” sehe. Dieses Bild, das ich mir in dieser Situation von dem Arzt mache und das ich auf ihn übertrage, nennt man “Übertragung” (englisch: Transference). (Text und Bild: © Dunja Voos) 

Übertragung wird bemerkt

Der Arzt selbst spürt, dass ich Hilfe suche und in ihm einen guten Vater sehe. Er entwickelt mir gegenüber väterliche Gefühle und will mir helfen. Die Gefühle und Gedanken, die der Arzt in dieser Situation in Bezug auf mich entwickelt, nennt man “Gegenübertragung” (englisch: Countertransference). Wenn ich jedoch wieder gesund bin und denselben Arzt zum Beispiel beruflich wiedertreffe, habe ich vielleicht ein ganz  anderes Bild von ihm. Vielleicht finde ich ihn plötzlich wenig väterlich, sondern vielmehr unangenehm besserwisserisch und arrogant.

Erspüren, Sortieren und Analysieren

“Übertragung” und “Gegenübertragung” spielen in jeder Beziehung eine Rolle. Besonders wichtig sind sie jedoch in einer psychoanalytischen Therapie. Hatte der Patient beispielsweise keine gute Beziehung zu seinem Vater, so mag er dem Therapeuten schon zu Beginn der Therapie feindlich gegenübertreten. Der Patient ist vielleicht vorsichtig und erwartet nichts Gutes vom Therapeuten. In der “Gegenübertragung” spürt dann auch der Therapeut eine Feindseligkeit und denkt möglicherweise: “Das ist ja ein argwöhnischer Patient. Er macht mich ganz ärgerlich mit seinem Argwohn. Ich bin mal lieber zurückhaltend.”

Genau hinschauen

Im Gegensatz zum “echten Leben draußen” bietet die Psychoanalyse an dieser Stelle einen Raum, um diese Reaktionen unter die Lupe zu nehmen. Das ist manchmal schwierig, denn es kann ja durchaus sein, dass der Patient und der Analytiker sich nicht “grün” sind, dass sie nicht zueinander passen und sich gegenseitig unsympathisch finden. Meistens stellt sich jedoch so eine unüberwindbare Antipathie gleich in den Erstgesprächen heraus. Wenn Therapeut und Patient nicht zusammenpassen, beginnen sie meistens nicht mit der gemeinsamen Arbeit. Wenn jedoch auf beiden Seiten ausreichend Sympathie da war, um mit der Therapie zu beginnen, wird die Analyse der Übertragung und Gegenübertragung ein wichtiger Bestandteil der Therapie sein.

Was da ist, wird ernstgenommen

Zur Ausbildung eines jeden Psychoanalytikers gehört die “Lehranalyse”. Hier geht der Psychoanalytiker selbst zu einem anderen Analytiker in “Therapie”. So lernt er sich selbst gut kennen. Die Gefühle, die der Analytiker entwickelt, wenn er einem Patienten begegnet, dienen ihm als Werkzeug. Zusammen mit dem Patienten kann der Analytiker beobachten, wie sich die Beziehung gestaltet. Dabei gibt es keine “falschen” oder “richtigen” Gefühle. Jedes Gefühl und jeder Gedanke hat seine Berechtigung – sowohl beim Therapeuten als auch beim Patienten. Der Sinn der Analyse von Übertragung und Gegenübertragung besteht nun darin, herauszufinden, wo immer wieder altbekannte Übertragungen stattfinden.

“Bei Freud taucht der Begriff der Gegenübertragung erstmals 1909 in einem Antwortbrief an C.G. Jung im Zusammenhang mit dessen Verhältnis zu Sabina Spielrein auf (Briefwechsel, 255; 7.6.1909).”
Quelle: Erika Krejci (Freiburg): Abstinenz: ein zentrales technisches Konzept der Psychoanalyse im historischen Wandel. Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXVII, 2012, 3/4: S. 410

Verstehen löst alte Muster auf – ein Beispiel:

Ein Kind hat eine Mutter, die dem Kind nicht viel Gutes gönnt. Dieses Kind wird erwachsen. Der Erwachsene sucht dann eine Therapeutin auf, weil er unter seinen Beziehungsschwierigkeiten leidet. Schon bald wird er vielleicht das Gefühl haben, dass die Therapeutin ihm nichts Gutes gönnen mag. Dann können Therapeutin und Patient schauen, inwieweit das stimmt oder ob der Patient generell dazu neigt, in anderen die “wenig gönnerhafte Mutter” zu sehen. Im Laufe der Therapie stellt der Patient vielleicht fest, dass ihm die Therapeutin sehr wohl sein Glück gönnt. Er kann dann neue Vorstellungen über die Therapeutin entwickeln. Es ist dann gelungen, das Mutter-Bild von dem Bild anderer Frauen zu trennen. Wenn die Therapie gelingt, dann hat der Erwachsene nicht mehr so leicht das Gefühl, andere Frauen würden ihm nichts gönnen. Er kann dann besser unterscheiden, ob er wirklich einer wenig gönnerhaften Frau gegenübersteht, oder ob er einer Frau Missgunst unterstellt, die sie selbst wirklich nicht hat. Wenn Übertragungs- und Gegenübertragungssituationen in der Therapie verstanden wurden, gelingt es dem Patienten meistens, sich freier zu bewegen und Beziehungen neu zu gestalten, weil er sich selbst besser kennt und somit auch andere besser einschätzen kann.

Worin besteht der Unterschied zwischen Übertragung und Projektion?
Bei der “Übertragung” gebe ich dem anderen eine Rolle – ich meine, im anderen die Eigenschaften meines Vaters, meiner Mutter oder anderer Personen wiederzuerkennen. Ich stülpe dem anderen quasi eine Rolle über.
Bei der Projektion schiebe ich eigene Gefühle auf den anderen. Ich fühle diese Gefühle nicht mehr bei mir, sondern sehe sie beim anderen.
Beispiel: “Der andere war ja sauer, ich nicht.”

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Gegenübertragungsabwehr
Übertragungswiderstand
Widerstand
Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference focused psychotherapy, TFP)

Quellen und Links:

Stefan Ahrens:
Lehrbuch der psychotherapeutischen Medizin
Schattauer Verlag, Stuttgart 1997: 167–169

Margaret I. Little (1901-1994)
Autorin von “Countertransference and the patient’s response to it” IJP 32, 1951, 32-40
www.psychoanalytikerinnen.de

Dieser Beitrag erschien erstmals am 26.1.2013
Aktualisiert am 24.11.2015


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