“Der liebe Gott sieht alles”, sagen manche Eltern. Oder sie sagen: “Der Weihnachtsmann weiß, wann du böse warst.” Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass jedes Kind und jeder Erwachsene eine Schutzhülle hat und braucht, damit es ihm gut geht. Auch unser Herz liegt geschützt in unserer Brust und ist für andere nicht sichtbar. Nur so können wir gesund bleiben. Jedes Kind und jeder Erwachsene braucht einen Raum, wo er ganz allein für sich sein kann. “Das ist privat” nennen es die Erwachsenen, wenn sie sagen wollen, dass es andere nichts angeht, was sie tun oder denken. (Text & Bild: © Dunja Voos. Beitrag auch zum Hören im mp3-Format verfügbar.)
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Privatheit macht Spaß, wenn man privat sein darf
Es macht Freude, wenn man mal ganz für sich alleine ist. Es ist auch schön, wenn man etwas für sich hat, von dem die anderen nichts wissen. Wenn andere aber zu neugierig sind und immer alles wissen wollen, oder wenn Erwachsene einfach immer ins Zimmer kommen, ohne anzuklopfen, dann ist es schwer, einen privaten Raum zu haben. Manchmal verliert man dann auch die Lust daran, für sich alleine zu sein – weil man immer Angst haben muss, dass ein anderer einfach reinplatzt.
Kleider schützen uns
Jeder hat das Bedürfnis, sich vor allzu neugierigen Blicken zu schützen. Wir tragen Kleider, weil wir nicht wollen, dass andere uns nackt sehen. In manchen Nächten träumen wir aber auch, dass wir uns nackt zeigen und finden das schön. Wir können uns heimlich wünschen, dass die anderen uns nackt sehen. Diesen Wunsch können wir gut verstecken. Wenn wir aber einmal aus Versehen die Hose auflassen, ist uns das furchtbar peinlich, weil wir etwas gemacht haben, was nicht normal ist. Es ist uns aber auch peinlich, weil unser heimlicher Wunsch, nackt zu sein, vielleicht auf diese Weise entdeckt wird.
Regeln einhalten
Es ist uns wichtig, zu anderen dazuzugehören und normal zu sein. Wenn wir aus Versehen etwas machen, was nicht normal ist, haben wir Angst, dass wir ausgelacht werden. Wer ausgelacht wird, der schämt sich und gehört kurze Zeit nicht mehr zu den anderen. Man fühlt sich dann ausgestoßen und das macht Angst.
Versteckte Wünsche
Von anderen ausgestoßen zu werden, macht oft so große Angst, dass man sich sogar verbietet, manche Dinge bloß zu denken. Man verbietet sich zum Beispiel, den Lehrer doof zu finden, weil man ja eine gute Note haben möchte. Oder man verbietet sich, den beliebtesten Jungen der Klasse zu mögen, weil man Angst hat, er könnte einen auslachen.
Es ist anstrengend, sich Gedanken und Gefühle zu verbieten. Dabei müsste man das gar nicht! Sich etwas zu wünschen heißt ja, dass etwas im Innenleben passiert. Wir können das, was wir denken und fühlen, für uns behalten und müssen es nicht nach außen tragen.
Wenn wir sicher sind, dass unsere Grenze dicht ist und dass ein Wunsch eben erst einmal nur ein Wunsch ist, dann dürfen wir auch unsere schlechten Wünsche bemerken. Wir können uns ruhig wünschen und vorstellen, den Lehrer zu treten. Wir schämen uns dann nicht, wenn wir wissen, dass der andere nicht in unseren Kopf gucken kann. Das ist dann Freiheit.
Scham kann so stark sein, dass sie einen daran hindert, etwas zu tun, was man gerne tun möchte. Verliebt man sich in ein Mädchen, so kann man es nicht ansprechen, wenn die Scham zu groß ist. Die Scham kann stärker sein als Wünsche und Liebe. Doch die Gefühle kämpfen: Werden die Wünsche und die anderen Gefühle größer als die Scham, kann man die Scham überwinden.
Manche schämen sich schneller als andere
Es gibt Menschen, die schämen sich ganz leicht und werden leicht rot. Viel öfter, als andere Menschen. Das sind oft solche Menschen, die viel zu viel von sich selbst erwarten. Sie sind oft streng erzogen worden und ihre Eltern schimpften oft plötzlich, ohne dass sie als Kind verstehen konnten, warum. Manchmal fühlen sich diese Menschen schuldig für Dinge, für die sie gar nichts können. “Ich hätte wissen müssen, dass der andere so denkt”, sagen sie zum Beispiel. Dabei kann man nicht wissen, was der andere denkt. Also braucht man sich auch nicht dafür zu schämen, dass man nicht hellsehen kann.
Scham darf sein
Sich zu schämen ist ein furchtbar unangenehmes Gefühl. Es ist anstrengend und die Scham kann drücken wie ein Schmerz. Sie kann uns aber auch davor schützen, dass uns andere Menschen zu nahe kommen. Oft können wir die Scham nicht verhindern. Manchmal möchte man etwas sagen, von dem man noch nicht weiß, ob es gut ist. Wenn wir es dann sagen und die anderen finden es gut, dann hat uns unsere Überwindung weitergebracht. Wenn die anderen es aber nicht gut finden, dann schämen wir uns und haben das Gefühl, dass wir besser nichts gesagt hätten. Wichtig ist es, die eigene Scham ernst zu nehmen und sie ein bisschen wie einen Kompass zu benutzen. Man kann durch Scham lernen, was passend ist und was nicht passt, wenn wir mit anderen zusammen sind.
Masken schützen
Manchmal überlisten wir die Scham – zum Beispiel an Karneval: Da tragen alle eine Maske. Man kann sich dann fast so benehmen, wie man will. Früher trugen Schauspieler manchmal Masken, damit sie Gefühle wie Ärger, Liebe oder Neid besser darstellen konnten. Diese Art der Maske bezeichnet man als “Persona”. Da sieht man, wie eng die Begriffe “Maske” und “Person” zusammenhängen. Man selbst ist eine Person. Man trägt die Kleider, in denen man sich wohlfühlt und man zeigt nach außen bewusst nur das, was die anderen auch sehen sollen und dürfen.
Die Scham überwinden
Es gibt Kulturen, in denen die Frauen ihr Gesicht bedecken. Wir hier in Deutschland finden oft, dass das ein Zeichen von Unfreiheit ist. Das Gesicht hinter Tüchern zu verstecken, kann aber auch ein Gefühl von Freiheit geben, weil die anderen zum Beispiel nicht sehen können, wenn man rot wird. Aber man kann nicht alles verbergen. Wenn man kurz davor ist, zu weinen, dann zittert die Stimme und die anderen hören, wie es einem geht.
Auch, wenn wir nicht alles von uns zeigen möchten, so bemerken andere Menschen doch oft Dinge an uns, die wir am liebsten nicht preisgeben würden. Manchmal ist man aber auch überrascht, wie gut es tut, wenn die anderen etwas bemerken und man endlich über etwas sprechen kann, was einen schon lange bedrückt. Also: Einerseits schützt uns unsere Scham davor, dass wir den anderen zu nahe kommen oder dass sie uns zu nahe kommen, andererseits müssen wir die Scham auch manchmal überwinden, damit wir neue Wege gehen können.
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Inspiriert durch:
Konrad Schüttauf: Die zwei Gesichter der Scham. Psyche- Z Psychoanal 62, 2008: 840-865, Klett-Cotta
Léon Wurmser, MD:
Shame and its Vicious Cycles
Prague, IPA Meeting 2013.
Kongresspapier
Dieser Beitrag erschien erstmals am 28.12.2013
Aktualisiert am 22.11.2015