Nach der Theorie der Psychoanalytiker ist ein Kind (in unserer Kultur) zwischen dem vierten und dem sechsten Lebensjahr in der “ödipalen Phase”, auch “phallische Phase” genannt (phallus = vom Griechischen abgeleitet: “Penis”). Der Zeitraum ist nicht unbedingt so eng begrenzt, doch hier werden die Themen, die sich rund um das eigene Geschlecht, die Sexualität und die Geschlechterrollen drehen, besonders deutlich. Mädchen und Jungen entdecken intensiv den Unterschied zwischen den Geschlechtern. Doktorspiele sind jetzt sehr beliebt. (Text: ©Dunja Voos, Bild: ©Piet Schimana)
“Ich heirate den Papa”, “Ich heirate die Mama”
In dieser Zeit hört man von den Mädchen oft, sie wollten später den Vater heiraten. Sie spielen Prinzessin in dem Wissen, dass die Mutter die “Königin” ist und sich nicht vom Thron werfen lässt. (Diese Phase ist übrigens eng verknüpft mit der Gefahr des sexuellen Missbrauchs in der Familie. Wenn die Eltern keine stabile Partnerschaft haben und Väter (oder auch Mütter!) instabil sind, dann nehmen sie die Verführung des Mädchens (des Jungens) leicht an und sexueller Missbrauch kann entstehen.
Natürlich hat hier das Mädchen/der Junge keine Schuld. Die Kinder befinden sich in einem gesunden Entwicklungsstadium. Doch es ist Aufgabe von Vater und Mutter, hier selbst die Grenze zu ziehen. Jungen werden auf einmal zum Müttersöhnchen, suchen ihre Nähe, flirten mit ihr und wollen sie erobern. Sie möchten vielleicht nicht mehr alleine im eigenen Bett schlafen und bestehen darauf, dass sie zur Mama krabbeln dürfen. Bei Mädchen mag es in dieser Zeit umgekehrt sein: Sie lieben ihren Papa über alle Maßen, während die Mama ihnen nichts mehr recht machen kann. Die Kinder gehen einen Kampf mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil ein, wollen unbewusst diesen Elternteil aus dem Weg räumen. Nur so können sie den begehrten Elternteil ganz für sich gewinnen. Diese Wünsche sind mit starken Ängsten verbunden.
Kastrationsangst ist die Angst, beschnitten zu werden
Jungen fürchten sich vor der Rache des Vaters. Die “Kastrationsangst” steht hierbei im Vordergrund. In Träumen und Phantasien zeigt sich die Angst des Jungen, dass seinem Penis oder anderen Körperteilen Schaden zugefügt wird. Er bangt um seine “männliche Identität”. In dieser Zeit haben viele Jungen, aber auch Mädchen, Angst vor lauten Geräuschen, vor Rasenmähern, Staubsaugen und Kreissägen – eben vor allem, was zu Verletzungen führen könnte. Alte Erziehungsmethoden fördern diese Angst, wenn Erwachsene z.B. damit drohen, den Daumen abzuschneiden, wenn das Kind nicht aufhören will, daran zu nuckeln.
Den Mädchen bleibt nur der Pferdeschwanz
Mädchen setzen sich mit dem fehlenden Glied auseinander. Sie haben das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Unbewusst geben sie die Schuld dafür der Mutter. Das verstärkt die inneren Kämpfe des Mädchens mit ihr. Die Mädchen leiden am so genannten Penisneid. Der Begriff “Penisneid” kann allerdings auch symbolisch verstanden werden. “Penisneid” ist auch eine Bezeichnung für den Neid des Mädchens auf den Jungen bzw. der Frau auf den Mann. Der Neid, dass Männer zum Beispiel mehr Geld verdienen oder häufiger im Beruf mehr Macht haben, zählt ebenfalls zum “Penisneid”.
“Später heirate ich einen Mann” – “Später heirate ich eine Frau”
Bei einer gesunden Entwicklung geben Mädchen und Jungen irgendwann ihren Kampf um den Vater bzw. die Mutter auf. Sie resignieren und merken, dass sie ihren Wunsch, einen Mann oder eine Frau zu heiraten, vertagen müssen. Vater oder Mutter können sie jedenfalls nicht heiraten. Und sie können die Eltern auch nicht trennen, denn die Eltern gehören zusammen (im Idealfall. Lassen sich die Eltern trennen, haben die Kinder meistens große Schuldgefühle. Diese Schuldgefühle gehen natürlich weit über die Themen der “ödipalen Phase” hinaus, aber sie können doch damit zusammenhängen). Im Idealfall gehören die Eltern zusammen und sie lieben sich. Es gibt wohl kaum ein Kind, das dieses Vater-Mutter-Kind-Idyll nicht liebt. Fast alle Kinder wollen die Eltern im Trennungsfall wieder zusammenführen.
Das Ende der ödipalen Phase – es kehrt Ruhe ein
Wenn die ödipale Phase beendet ist, haben die Kinder auch “sich selbst” gefunden. Für das Kind bleibt, bildlich gesprochen, die Schlafzimmertür der Eltern zu. Das schmerzt das Kind einerseits, denn es bemerkt, dass es getrennt ist vom Elternpaar. Es merkt aber anderseits auch, dass es sich seiner selbst sicher sein kann. Es kann in Ruhe seine Sexualität, seine Geschlechtsidentität finden, ohne dass die Gefahr des sexuellen Missbrauchs besteht. Die Jungen und Mädchen wenden sich wieder dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu. Das Mädchen “versöhnt” sich mit der Mutter, der Junge mit dem Vater. Sie wollen vieles wieder gutmachen, weil sie sich schuldig fühlen, dass sie das gleichgeschlechtliche Elternteil so schlecht behandelt haben. Das Verhältnis zur Mutter bzw. zum Vater wird wieder liebevoller – der Dritte im Bunde wird akzeptiert (Triangulierung). Die Kinder treten in die so genannte Latenzphase ein, die bis zur Pubertät anhält. Dann wird das Interesse für die Sexualität auf einer reiferen Stufe neu geweckt.
Hysterische Neurose als Folge ungelöster Probleme
Probleme im Erwachsenenalter, die mit der ödipalen Phase zusammenhängen (z.B. übertriebenes Konkurrenzdenken oder ständige Feindschaften zum gleichen Geschlecht, wiederholtes und schmerzhaftes Verlieben in verheiratete Männer bzw. Frauen, hypochondrische Ängste, Folgen von Missbrauchserlebnissen) werden als hysterische Neurose bezeichnet.
Der Begriff “ödipale Phase” geht auf die griechische Ödipus-Sage zurück, in der Ödipus seinen Vater Laios tötet und seine Mutter Iokaste heiratet, ohne es zu wissen.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 29.7.2012
Aktualisiert am 3.6.2015