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Clik here to view.Alexithymie ist die Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und zu beschreiben. Manchmal überdecken körperliche Beschwerden die eigentlichen Gefühle. Das Wort „Alexityhmie“ leitet sich aus dem Griechischen „lexis“ = „das Lesen“ und „thymos“ = „das Gefühl“ ab. Die Vorsilbe „A-“ verneint das Nachfolgende. Wörtlich ist „Alexithymie“ also die Unfähigkeit, Gefühle zu lesen.
Das ist Wut und das ist Freude
Wie selbstverständlich bringen wir den Kindern die Farben bei. Wir sagen: „Das ist rot, das ist gelb und das ist grün.“ Und es ist höchstwahrscheinlich, dass alle Menschen – es sei denn, man ist farbenblind – das gleiche „Rot“ sehen, wenn sie „Rot“ sagen.
Bei Gefühlen ist es ähnlich: Wut schmeckt sozusagen allen gleich. Liebe und Hass auch. Aber nicht jeder kann seinem Gefühl einen Namen geben. Gefühle werden nicht so „systematisch gelehrt“ wie Farben, Zahlen und Buchstaben.
Allein und überfordert mit eigenen Gefühlen
Viele Kinder können ihre Gefühle nicht kennenlernen, weil sie keine Mutter (oder andere Bezugsperson) hatten, die ihre Gefühle anschaute, aufnahm, verstand, verarbeitete, spiegelte und zurückgab. So wurde es schwierig für die Betroffenen, eigene Gefühle wahrzunehmen und zu benennen. Gesicht und Augen sind da besonders wichtig, doch natürlich können auch Blinde über Stimme und Körperspannungen Gefühle mit der Mutter austauschen und so ihre Gefühle kennenlernen. Manche Kinder hatten also erst gar keine Chance, ihre Gefühle kennenzulernen. Andere Kinder können ihre Gefühle sehr gut wahrnehmen und möglicherweise auch benennen, aber sie verdrängen diese Gefühle. Sie sagen, sie fühlten einfach nichts.
Gefühle wurden verhindert oder verdrängt
Gewalterfahrungen bringen Gefühle durcheinander. Traumatisierte Menschen verdrängen viele Gefühle ganz bewusst. Doch auch Nicht-Beachtung, Vernachlässigung und fehlende emotionale Verfügbarkeit der Mutter wirken traumatisch. Es sind sozusagen „leise“ oder „stumme“ Traumata. Entsprechend wirken diese Menschen oft gefühlskalt, wie mechanisch. Sie sind unglücklich und sagen: „Komisch, dabei war zu Hause nichts. Meine Eltern haben mich noch nicht mal angeschrien oder geschlagen.“ Viele Menschen erleben auch beides: Gewalt und Nicht-Beachtung im steten Wechsel, wobei eine Gewaltanwendung ja auf eine gewisse Art auch mit „Nicht-Beachtung“ einhergeht.
Der Psychoanalytiker Pierre Marty (1918-1993) führte hier die Begriffe „Pensée opératoire“ (1963) und „Dépression essentielle“ (1990), leere Depression, ein.
(Samir Stephanos (IPA): Trauma und Versöhnung – über die Grenzen der Analysierbarkeit. www.wolfgang-loch-stiftung.de/documents/JB%2055_WL_Stephanos.pdf, Jahrbuch der Psychoanalyse 55, Verlag frommann-holzboog, 2007, S. 37-55).
Fühlen und Benennen
Wenn wir ein Gefühl spüren, ist es das Eine, diesem Gefühl den „richtigen“ Namen zu geben. Oft handelt es sich ja um komplizierte Gefühlsmischungen oder Zustände, die sich kaum einordnen oder benennen lassen. Gefühle wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen, kann besonders auch dann problematisch sein, wenn wir uns durch eine strenge Erziehung (Dressur) nicht erlauben konnten, aggressive Gefühle zuzulassen.
Schmerzen werden tot gemacht
Es kann auch sein, dass wir nach schlimmen Erlebnissen Schwierigkeiten haben, seelischen Schmerz zu spüren, weil es uns so gut gelingt, unseren Schmerz vordergründig „auszuschalten“. Gut, dass der Mensch zu so etwas in der Lage ist. Wenn die Gefahr jedoch vorüber ist und der Mechanismus so weiterläuft, kann das zu psychischem Leiden führen: Ängste, Zwänge, Arroganz (siehe Narzissmus) oder Aggressionen können die Folge sein.
Wer nichts fühlt, für den wurde nie gefühlt
Es ist auch möglich, dass die Mutter unfähig war, ihr Baby zu spiegeln und sich affektiv auf ihr Baby einzustimmen, sodass das Kind nie seine Gefühle kennenlernen konnte. Auch das Mentalisieren – also das Nachdenken über sich und andere – ist traumatisierten Kindern oft kaum möglich, weil sie sozusagen ihr Wissen und ihre Denkfähigkeit ausschalten, um nicht mit der schrecklichen Wahrheit konfrontiert zu werden. Vordergründig sagen die Betroffenen, dass sie nichts fühlen und auch nicht „denken“ können. Im Schutz einer Psychoanalyse oder psychoanalytischen Therapie wagen es jedoch viele Patienten, sich ihre Gefühle zu gestatten und sie neu kennenzulernen.
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Literatur:
Samir Stephanos:
Trauma und Versöhnung – über die Grenzen der Analysierbarkeit.
Jahrbuch der Psychoanalyse 55, Verlag frommann-holzboog, 2007, S. 37-55
www.wolfgang-loch-stiftung.de/documents/JB%2055_WL_Stephanos.pdf
Dieser Beitrag erschien erstmals am 28.7.2007
Aktualisiert am 12.11.2016