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Beim Psychotherapeuten zur Toilette gehen?

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„Also während der Stunde gehe ich schon mal gar nicht!“ – „Mein Therapeut hat sein Bad direkt neben dem Therapieraum. Wenn ich da muss, schäme ich mich in Grund und Boden.“ Patienten sprechen in Online-Foren darüber, wie schwer es ihnen fällt, bei ihrem Psychotherapeuten auf die Toilette zu gehen. Einen interessanten Thread hierzu gibt es auf der Website psychotherapiepraxis.at. Viele Patienten bringen das Problem mit dem „Müssen“ in der Psychotherapie selbst erst nach großer Überwindung zur Sprache. (Text & Bild: © Dunja Voos)

Unsere saubere Gesellschaft

Ausscheidungen sind gefühlt etwas Schmutziges. Doch in der Werbung für Tampons, Binden, Windeln und Inkontinenzhilfen sind die Menschen immer sauber und lächeln. Wie konfliktreich dieses Thema in Wirklichkeit ist, zeigt das Bild von einer jungen Frau namens „Rupi“, die auf Instagram ein Foto postete, auf dem zu sehen war, dass ihre Schlafanzughose mit Regelblut befleckt war (mehr dazu auf gofeminin.de). Instagram hatte dieses Foto zunächst gelöscht, dann aber wieder eingestellt.

„Du warst doch gerade!“

Schon für „Normale“ und „Gesunde“ ist es schwierig. Doch besonders dann, wenn man an einer Blasenentzündung oder einem Reizdarmsyndrom leidet oder mit einem Kind durch die Stadt geht, sieht man sich immer wieder mit der Schwierigkeit konfrontiert, eine Toilette zu finden. Grundbedürfnisse scheint der Mensch mancherorts nicht haben zu dürfen. Wenn ein Schulkind gleich nach der Pause zur Toilette muss, straft es der Lehrer/die Lehrerin mit kritischen Blicken: „Es war doch gerade Pause.“ Oder Mutter und Vater sagen: „Du warst doch gerade!“ Kleinen Babys, die schreien, trauen wir zu, dass sie Hunger haben oder frieren. Aber nicht, dass sie mal müssen. Sie haben doch eine Windel! Denken wir. Und doch gibt es Hinweise darauf, dass sie sich gerne „sauber“ entleeren würden, also dass sie nicht in die Windel machen wollen (siehe Elimination Communication).

Scham in der Psychotherapie

In der Psychotherapie spielt Scham eine ganz besondere Rolle. Viele Menschen beginnen einen Psychotherapie, weil sie unter bewussten oder unbewussten großen Scham- und Schuldgefühlen leiden. Scham und Schuld sind Gefühle, die sich zwischen einem selbst und einer nahen Bezugsperson abspielen. Diese und andere unangenehme Gefühle und Gedanken wollen wir abschieben und ausscheiden. Manchmal geht das in die Hose. Wenn man in der Psychotherapie zur Toilette muss, kann das Schamgefühl ins Unermessliche steigen, weil man unter Umständen spürt, dass da ganz viele Themen dranhängen.

Sich zeigen

Wer während der Sitzung „muss“, der zeigt etwas von sich, was er vielleicht lieber verbergen würde. Manchmal kann unbewusste Erregung zu Harndrang führen. Manchmal hat man „Schiss“ vor dem Therapeuten und möchte heikle Themen nicht zur Sprache bringen. Man möchte Angst und Ärger vielleicht verbergen und stattdessen „muss“ man. Manchen Patienten wird es durch die Anspannung auch übel. Je nach Persönlichkeit haben Patienten auch Angst, sich in der Praxis übergeben zu müssen.

Eine große Aufgabe: Das Schmutzige in sich tolerieren lernen.

Darüber sprechen

Es kann sehr quälend sein, eine Stunde durchzuhalten, in der man die ganze Zeit muss. Psychotherapie ist für alle Themen da. Auch für die ganz, ganz peinlichen. Gerade an diesem Thema kann sich zeigen, wie vertrauensvoll die Beziehung zum Therapeuten ist. Welche Reaktionen erwartet man vom Therapeuten? Welche Ängste sind mit dem Drang, zur Toilette zu müssen, verbunden? Die Ausscheidung fängt oft „oben“ an, nämlich indem man versucht, darüber zu sprechen. Doch die Worte „Ich muss mal/ich muss zur Toilette und ich schäme mich so“ kommen nicht leicht.

Auf der Toilette

Auf der Toilette selbst entstehen dann Ängste wie: „Er/sie hört mich. Hört meine Darmgeräusche, mein Wasserlassen, die Toilettenspülung. Vielleicht komme ich hier nie wieder weg! Was macht er/sie, während ich hier weg bin? Habe ich peinliche Wünsche? Will ich mich nackt zeigen, wünsche ich mir, wie ein Baby gepflegt und gewickelt zu werden? Oder muss ich einfach, weil ich zufällig auch noch einen Körper habe und einfach muss?“ Es bleibt spannend. Und es kann eine große Herausforderung sein, dieses Thema zu bearbeiten und die Bilder und Vorstellungen zu finden, die damit zusammenhängen. Dann können oft ganz nebenbei auch andere psychische Probleme auftauchen gelöst werden.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

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Reizdarmsydnrom: Auch ein Beziehungsproblem
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Colitis ulcerosa und die Psyche
Die Idee von „freier“ Menstruation gegen Regelschmerzen
Attunement

Links:

Lemma, Alessandra:
Off the couch, into the toilet.
Exploring the psychic uses of the analyst’s toilet

In:
Minding the Body:
The Body in Psychoanalysis and Beyond
The New Library Of Psychoanalysis
Abstract (Full Text Free)
amazon

Haslam, Nick:
Toilet psychology
the psychologist …
June 2012, Vol.25 (pp.430-433)
The British Psychological Society
thepsychologist.bps.org.uk/volume-25/edition-6/toilet-psychology

Petra Christian-Widmaier:
Nonverbale Dialoge in der psychoanalytischen Therapie
Eine qualitativ-empirische Studie.
Buchreihe: Forschung Psychosozial, 2009
www.psychosozial-verlag.de/732

Dieser Beitrag erschien erstmals am 21.8.2015
Aktualisiert am 20.5.2016


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