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Buchtipp: „Das Seelenleben des Kleinkindes“ von Melanie Klein

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Wenn man Babys schreien hört, könnte man manchmal denken, sie hasten die ganze Welt. „Als würde es sie zerreißen“, sagen die Eltern. Und schon sind wir mitten drin in Melanie Kleins Themen vom (psychischen) Fressen und Gefressen-Werden. Die Psychoanalytikerin Melanie Klein (geb. 1882 in Wien, gestorben 1960 in London) ist höchst umstritten. Liest man ihre Beiträge zur Psychoanalyse im Buch „Das Seelenleben des Kleinkindes“, wird einem durch eigenes In-sich-Horchen schnell klar, warum. (Text: © Dunja Voos; Bild: © Klett-Cotta)


Ambivalent

Ich „verschlang“ dieses Buch. Und ich schwankte ständig zwischen dem Gedanken „Sie ist genial“ und dem Gedanken „Das sind Phantasien ohne Grundlage“. Bei Melanie Kleins Beiträgen habe ich das Problem, dass sie sich wie selbstverständlich in ihren Gedankengebäuden und Theorien bewegt, ohne mich als Leserin nochmal so mit auf die Reise zu nehmen, dass ich nicht aus der Puste komme.

Kinder und Psychotiker sind einander nah

Melanie Klein gehört zu den Psychoanalytikern, die die „Objektbeziehungstheorie“ entwickelt haben. Als „Objekte“ bezeichnen Psychoanalytiker „die anderen“, während man selbst das „Subjekt“ ist. Melanie Klein hat ihre Theorien insbesondere aus den Analysen mit Kindern entwickelt. Daher sind ihre Theorien auch für das Verständnis von Psychosen so wichtig.

Bei kleinen Kindern wird besonders deutlich, wie eng die Psyche mit dem Verdauungsapparat zusammenhängt. Die Psyche möchte äußere Objekte wie z.B. Mutter und Vater in sich aufnehmen. Wenn die Psyche eine Vorstellung von Mutter und Vater in sich tragen kann, dann wird es dem Kind möglich, die Trennung von Mutter oder Vater zu ertragen. Die Menschen, die außen bedeutungsvoll sind, nimmt man auch innerlich auf. Sie dienen der eigenen Entwicklung und Emotionsregulation. Wenn das Kind aus verschiedenen Gründen Schwierigkeiten hat, äußere Objekte in seine Psyche aufzunehmen, so kann es gleichzeitig sein, dass sich Essstörungen bemerkbar machen.

Vom Teilobjekt zum ganzen Objekt

Am Anfang des Lebens nimmt das Baby nach der Theorie Kleins nicht das ganze Bild der Mutter auf, sondern nur sogenannte „Teilobjekte“. Ein solches „Teilobjekt“ ist zum Beispiel die Brust der Mutter. Spürt das Kind Hunger, so spürt es alsbald die Brust an seinem Mund. Die Mutter ist für das Kind (aus Kleins Sicht) zunächst nur die Brust. Das Gegenbild dazu liefert die Mutter, die von sich in der Stillzeit sagt: „Ich fühle mich lediglich wie eine Milchkuh.“ Ist die Brust zur rechten Zeit da und nährt sie das Kind gut, so ist die Vorstellung von der Brust im Kind eine gute. Wenn das Kind aber Hunger hat und die Brust bleibt fern, dann erlebt das Kind die abwesende Brust sozusagen als „böse Brust“. Es fühlt sich dann verfolgt. Wir kennen das auch als Erwachsene: Wenn wir Hunger haben und an ein Sandwich denken, dann wird dieses Sandwich in unseren Gedanken immer größer und aufdringlicher, je hungriger wir werden.

Aus „gut“ wird „böse“

Die Brust kann sich also plötzlich von der guten zur bösen Brust verwandeln und das Baby in Gedanken verfolgen. Später, wenn das Kind die Mutter als „ganzen Menschen“ erlebt, verleibt es sich die Mutter auch als „ganze Mutter“ in seine Psyche ein, so Melanie Klein. Doch auch hier bekommt das Kind das Problem, dass sich die „gute Mutter“ rasch in eine „böse Mutter“ verwandeln kann. Das Kind ist sich nicht sicher, ob es die „gute Mutter“ in seiner Psyche als „gut“ bewahren kann. Die ersten inneren Objekte (Primärobjekte), also in der Regel Vater und Mutter, führen nach Klein dazu, dass das Kind ein „Über-Ich“ entwickelt. Je unsicherer und problematischer die Beziehungen zu Mutter und Vater, desto komplizierter ist auch die Innenwelt eines Menschen.

Leben und Tod, Hass und Liebe

So, wie Lebens- und Todestrieb gegeneinander kämpfen können, so können auch Liebe und Hass miteinander kämpfen. Wir kennen die Angst, dass wir unsere Liebe verlieren könnten und dass wir im guten Anderen eines Tages vielleicht nur noch den Bösen sehen. Vielleicht tragen wir innerlich eine „gute Großmutter“ oder einen „guten Analytiker“ mit uns herum. Wir versuchen dann mit aller Macht, die guten Objekte in uns gut zu halten. Keiner darf auch nur die kleinste negative Bemerkung machen.

Wir tragen auch „böse Objekte“ und „Hass“ in uns. Wir können uns vom eigenen Todestrieb verfolgt fühlen. Melanie Klein sagt, dass „das Ich seine guten und bösen Objekte in sich nicht wirklich getrennt halten kann“ und dass „ein Teil der Grausamkeit der bösen Objekte und des Es den guten Objekten zugeschoben“ wird (S. 65), sodass die guten Objekte schließlich als sehr streng und fordernd erlebt werden können. Man möchte so gut sein wie die guten inneren Objekte, aber wenn man bemerkt, dass man es nicht schafft, dann kommt eine Art Hass auf das ach so perfekte Objekt auf. Das wiederum kann zu „Gewissensbissen“ und Schuldgefühlen führen.

Angestrengt

Wenn ich Melanie Kleins Beiträge lese, fühle ich mich immer angestrengt. Ich denke: Hoffentlich ist es nicht ganz so. Dieses Buch erscheint mir wie ein Krimi, der die ganze Zeit von einer düsteren Stimmung und Rätselhaftigkeit beherrscht wird. Es ist für mich wie bei dieser Art Film, der einem keine Atempause erlaubt. Andererseits stelle ich immer wieder schmerzlich fest, wie viele ihrer Beschreibungen ich selbst spüren kann. Was ich bei Melanie Klein jedoch als so bedrückend empfinde, ist ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Zum Beispiel schreibt sie, dass das Ausmaß der Liebesfähigkeit und die Neigung zum Hass angeboren sind – auch, wenn sie durch die Beziehungen beeinflusst werden: „Aber die Grundgefühle – vor allem die Liebesfähigkeit – scheinen angeboren zu sein“ (S. 229).

Intersubjektivität kommt zu kurz

Mir fehlt bei Melanie Klein stark das Intersubjektive, also das Zusammenspiel zwischen ihr und dem Patienten, die genauere Beschreibung von Übertragung und Gegenübertragung sowie der heilende Effekt der Liebe, des Verstehens und des Einfühlungsvermögens.

Zum Beispiel schreibt sie auf S. 226:
„Auf unbewusster Stufe ist das Ziel der Gier vor allem, die Brust vollkommen auszuhöhlen, leer zu saugen und zu verschlingen, das heißt, ihr Ziel ist destruktive Introjektion. Neid hingegen strebt nicht nur danach, auf diese Weise auszurauben, sondern auch danach, Böses – vor allem böse Exkremente – und böse Teile von sich selbst, in die Mutter, das heißt in erster Linie in ihre Brust, hineinzutun, um sie zu verderben und zu zerstören.“

Wohl jeder kennt die Lust an der Vorstellung, einem verhassten Menschen so richtig wehzutun. Es kann Spaß machen, etwas gierig auszuhöhlen, anzugreifen, zu zerstören. In Spielen, bei Liebeskummer, in der Musik, in der Kunst, in Märchen, in Horrorfilmen – überall sind diese Phantasien und Regungen präsent. Aber immer wieder vermisse ich die stärkere Erwähnung der Tatsache, dass es für diese Reaktionen ja auch Ursachen gibt.

Klein schreibt:
„Der neidische Patient missgönnt dem Analytiker den Erfolg seiner Arbeit“ (S. 227).

Klein geht dann hauptsächlich auf den Patienten ein und auf die Frage, ob er seinen Neid überwinden kann. Als ob er das rein aus eigener Kraftanstrengung tun müsste. Sie erwähnt nicht, dass der Patient ja tatsächlich oft Grund zum Neid auf den Analytiker hat. Der Analytiker hat’s geschafft: Er sitzt gelassen in seinem Sessel, ist gut angezogen, hat Geld für die Ausbildung, lebt vielleicht in einem guten familiären Umfeld, während sich der Patient gerade erst auf den Weg macht. Im Vergleich mit dem Analytiker merkt der Patient umso mehr, wie weit er noch von ihm entfernt ist. Ich finde, es ist Aufgabe des Analytikers, diesen berechtigten Neid auch zu würdigen und dem Patienten zu zeigen, dass er ihn verstehen kann (wenn er’s denn kann). Durch dieses Entgegenkommen kann der Patient vieles überwinden. Doch Klein besteht aus meiner Sicht zu sehr darauf, dass der Patient diese Gefühle bewusst durchlebt. Ja, das ist immens wichtig, aber meinem Empfinden nach lässt sie die Patienten zu lange im eigenen Saft schmoren.

Die Erfahrungen des Analytikers fließen in die Therapie ein

Ich habe sehr oft das Gefühl, dass Melanie Klein sich versteckt. Ich frage mich zum Beispiel, welche Erfahrungen sie selbst als Mutter gemacht hat. Ihre Tochter Melitta Schmideberg (1904-1983) hat sich einst mit ihr überworfen (siehe www.fembio.org). Auch wurde ich beim Lesen auf S. 63 stutzig:

„Die inneren Vorgänge, die später als Liebesverlust bezeichnet werden und zur Depression führen, sind bestimmt durch das Gefühl des Individuums, beim In-sich-Aufnehmen und Bewahren seiner guten inneren Objekte versagt zu haben, sie niemals sicher genug besessen zu haben – ein Gefühl, das auf die Entwöhnungsperiode und die Zeit unmittelbar vorher und nachher zurückgeht.“

Melanie Klein geht anscheinend davon aus, dass die Entwöhnungsperiode von der Brust vorrangig schmerzlich sein muss. Beim Abstillen macht jedes Mutter-Kind-Paar eigene Erfahrungen, doch wenn es organisch verläuft, kann man doch oft beobachten, dass Mutter und Kind, also beide, des Stillens satt sind. Das Kind will irgendwann weg von der Brust, es hat genug und auch die Mutter mag nicht mehr. Die Entwöhnungsperiode kann in beiderseitigem Einverständnis passieren und wahrscheinlich ist nicht nur bei der Mutter, sondern auch beim Kind eine Erleichterung darüber da, dass die Stillzeit zu Ende ist. Schmerzlicher Verlust ist ein Teil des Erlebens, aber der Aspekt der Erleichterung (auch für das Kind) wird von Klein vielleicht unterschätzt.

Faszination

Was ich bei Melanie Kleins Texten jedoch immer wieder faszinierend finde, ist es, wie selbstverständlich sie mit Bildern umgeht. Sie spricht ausführlich von „inneren Verfolgern“, die wir auch als Erwachsene kennen – sie werden uns spätestens dann bewusst, wenn wir wieder im Traum von jemandem verfolgt werden. Klein zeigt die Nähe der psychischen Vorstellungen zum Körper auf: Gehasste (Teil-)Objekte erscheinen wie Faeces, die ausgeschieden werden wollen. Ebenso wollen wir den Gedanken an bestimmte Menschen loswerden oder wir projizieren eigene ungeliebte Eigenschaften auf andere Menschen. Wenn wir Verdauungsdruck haben, wollen wir den Stuhl schnell ausscheiden. Wir fühlen uns vom eigenen Körper, vom Darm „verfolgt“, wenn wir zu unpassenden Zeiten zur Toilette müssen oder uns der Durchfall bei einem Termin schon wieder einen Strich durch die Rechnung macht.

Der psychische Raum, der Bauch und die Angriffe auf innere Objekte

Wie oft haben wir das Gefühl, eine Beziehung kaputtzumachen oder den anderen innerlich „zu verderben“. Wir nehmen eine wichtige Bezugsperson in unsere Psyche auf, werden dann neidisch und spüren, wie diese vormals gute Person, also das gute innere Objekt in uns auf einmal „verdirbt“. Kleine Kinder phantasieren, dass im Bauch der Mutter nicht nur Exkremente sind, sondern auch kleine Kinder. Sie phantasieren den Penis im Bauch der Mutter. Manchmal phantasieren sie auch sich selbst wieder im Bauch der Mutter, was durch Kinderzeichnungen und Erklärungen der Kinder deutlich werden kann. Nicht selten wollen die Kinder in ihrer Wut die Mutter schädigen. Melanie Klein geht auf den Sadismus des Kindes ein: „Die Frühstadien des Ödipuskonfliktes stehen unter der Vorherrschaft des Sadismus. Sie fallen in eine Entwicklungsphase, die durch den oralen Sadismus eingeleitet wird, zu dem der urethrale Sadismus, der Muskelsadismus und der anale Sadismus sich gesellen, und finden mit der Vorherrschaft des analen Sadismus ihren Abschluss“ (S. 53).

Weitere Themen des Buches sind unter anderem „Neid und Dankbarkeit“, „Die Bedeutung der Symbolbildung für die Ichentwicklung“ und „Die Trauer und ihre Beziehung zu manisch-depressiven Zuständen“.

Fazit: Ein faszinierendes Buch, das einen guten Überblick über die Theorien Melanie Kleins gibt. Wer vorher nie mit analytischem Denken zu tun hatte, dem mögen viele Ideen weit hergeholt erscheinen. Wer mit Psychotikern arbeitet, wird viele hier beschriebene Phantasien von seinen Patienten kennen. Melanie Kleins Schriften können hier helfen, mehr vom Psychotiker zu verstehen. Klein geht übrigens davon aus, dass schon Kinder psychotisch sein können.

Manches aus diesem Buch kann man vielleicht erst nachvollziehen, wenn man Einiges selbst als Analysand in der Psychoanalyse erlebt hat. Die Psychoanalyse ist wie eine Lupe für seelische Vorgänge, sodass sich vieles von dem, was Klein beschreibt, in der eigenen Entwicklung wiederfinden lässt.

Was häufig fehlt, sind genauere Ausführungen und deutlichere Erklärungen, wie Melanie Klein nun auf diese oder jene Idee kommt.

Im Text gibt es viel zu viele Substantivierungen, wodurch nicht immer klar ist: „Wer tut was?“ So ist es oft schwer, einzelne Sätze zu verstehen. Schaut man genauer hin, entdeckt man grammatikalische Fehler, sodass nicht die eigene Unfähigkeit die Ursache dafür ist, dass man einzelne Sätze nicht versteht.

In Melanie Kleins Texten fehlt mir Warmherzigkeit, Zuversicht und Verständnis. Die Rolle des Innenlebens des Analytikers kommt viel zu kurz. Die Texte hinterlassen im Leser möglicherweise ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und des „permanenten Stresses“. Schon beim Lesen wird man wahrscheinlich feststellen, dass man einzelne Sätze abwehrt – zu schmerzhaft ist es, anzuerkennen, dass Klein vielleicht Recht haben könnte. Das liegt aber durchaus auch an der Art, wie sie es vermittelt. Die Person als Überbringer der Nachricht ist eben enorm wichtig (siehe: Was haben Analytiker und Fernseh-Meteorologen gemeinsam?).

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Buch:

Melanie Klein (1962):
Das Seelenleben des Kleinkindes
… und andere Beiträge zur Psychoanalyse
Klett-Cotta, 10. Auflage, 2015


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